Notruf NRW: „Wir streiken, bis ihr handelt“

Die Mitarbeitenden der sechs Unikliniken in NRW streiken. Seit ihr 100-tägiges Ultimatum, das sie ihren Arbeitgeber:innen gestellt hatten, am ersten Mai ausgelaufen ist. Was der Tarifvertrag Entlastung für die Uniklinik-Beschäftigten in NRW und unser Gesundheitssystem bedeutet.

Der Streikposten in der Domagkstraße ist gut besucht: Zum wiederholten Mal versammelten sich am 21. Juni Beschäftigte des Universitätsklinikums Münster (UKM) und ihre Unterstützer:innen, um für bessere Arbeitsbedingungen zu demonstrieren. Denn nicht die Krankenhäuser sind überlastet, sondern ihre Beschäftigten. So auch Lisa Schlagheck, Mitbegründerin der Bewegung MünsterCares, die auf Missstände – insbesondere in der Pflege, aber auch im Gesundheitssystem allgemein – aufmerksam macht. Seit vier Jahren arbeitet die 29-Jährige als examinierte Pflegekraft in der zweistöckigen Notaufnahme des UKM. Was bedeutet, dass Schlagheck sowohl im Erdgeschoss den Überblick über eintreffende Patient:innen behalten als auch den Schockraum im Obergeschoss betreuen muss. Und das alleine. „Ich muss mich quasi zweiteilen“, sagt sie. „Solche Zustände sind Standard und werden toleriert, einfach weil das Profit-Interesse im Vordergrund steht.“

Klingt eigentlich, als gäbe es dafür eine einfache Lösung: mehr Personal. Doch das ist gar nicht so leicht umzusetzen. Denn in Deutschland ist die Finanzierung der Gesundheitsversorgung über das sogenannte DRG-Fallpauschalensystem geregelt, das durch eine Deckelung des Gesamtbudgets und die fallbezogene Abrechnung medizinischer Leistungen Sparanreize (insbesondere im Personalbereich) schafft. Und damit zu einer schlechteren Patient:innenversorgung führt. Zu diesem Ergebnis kam auch eine 2020 veröffentlichte Studie der Hans-Böckler-Stiftung, die die Situation so zusammenfasste: „Das DRG-Fallpauschalensystem […] bestraft eine überdurchschnittlich gute Personalbesetzung mit Verlusten und belohnt Unterbesetzung mit Gewinnen“. Und zwar in allen Bereichen, nicht nur in der Pflege. 

Die Bewegung Notruf NRW, welche sich aus Beschäftigten der sechs Unikliniken in NRW und Vertreter:innen der Gewerkschaft ver.di zusammensetzt, fordert deshalb einen sogenannten „Tarifvertrag Entlastung” (TVE), der Ende letzten Jahres bereits von Streikenden Berliner Krankenhäuser und Kliniken durchgebracht wurde. Darin wird festgeschrieben, wie viel Personal in den jeweiligen Bereichen mindestens eingesetzt werden muss, um eine Patient:innen-gerechte Versorgung zu gewährleisten. Solange die Kliniken den Personalschlüssel nicht anpassen, erhalten die Mitarbeitenden einen Belastungsausgleich, in Form freier Tage. Damit es dabei keine Uneinigkeiten gibt, ist das Ganze durch ein Punktesystem geregelt. „Wenn beispielsweise statt sieben nur vier Menschen da sind, wird das direkt erfasst und diese vier Menschen bekommen einen Entlastungspunkt, der dokumentiert: Hier hat jemand eine Schicht Überlast gearbeitet“, erklärt ver.di-Gewerkschaftssekretär Thomas Meißner, der an den Verhandlungen um den TVE mit beteiligt ist. Die aus Schlaghecks Sicht allerdings eher schleppend vorangehen: „In manchen Bereichen haben wir schon gute Angebote vorgelegt bekommen, in vielen aber auch noch nicht“, sagt sie. „Und es ist natürlich herausfordernd und anstrengend, jeden einzelnen Tag für etwas zu kämpfen, was eigentlich selbstverständlich sein sollte.“ Das sieht auch Paul von den Kritischen Mediziner:innen so, einer Gruppe Medizinstudierender, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das Studium und ihren späteren Beruf kritisch zu hinterfragen. „Uns ist es extrem wichtig, Zeichen zu setzen und uns zu solidarisieren – es braucht einfach diesen Zuspruch, wenn sich der Druck, seitens der Arbeitgeber oder vielleicht auch von anderen Kolleg:innen, erhöht.“ 

Schuld sind allerdings nicht nur die Kliniken, denen durch das Fallpauschalensystem zum Teil die Hände gebunden sind, sondern vor allem auch die Politiker:innen. Vor den NRW-Landtagswahlen versicherten alle Parteien, die finanziellen Mittel bereitzustellen. Die Vorsitzenden der mittlerweile regierenden Koalition aus CDU und Grünen unterschrieben bereits im April eine Petition der Beschäftigten für einen TVE. Im kürzlich veröffentlichten Koalitionsvertrag ist davon allerdings keine Rede mehr. 

Schlagheck wird ihren Beruf vermutlich bald verlassen. „Die Arbeit macht mir seit über einem Jahr keinen Spaß mehr, ich bin einfach so stark konfrontiert mit diesen Missständen – auch dadurch, dass ich konstant darüber spreche –, dass ich sie im Alltag nur noch schwer aushalte“, sagt sie. „Und ich möchte nicht irgendwann schlechte Arbeit leisten, weil ich zu lange gezwungen war, unter schlechten Arbeitsbedingungen zu arbeiten.“

Natürlich sei der TVE im Falle einer Einigung „keine Dauerlösung“, es brauche eine Reform des Finanzierungssystems. Aber: „Jeder einzelne TVE ist ein Druckpunkt auf das aktuelle Finanzierungssystem: Je mehr TVEs es gibt, desto mehr wird das Fallpauschalensystem angegriffen, bis es sich irgendwann nicht mehr rentiert“, erklärt Schlagheck. Bis dahin sehe sie ihren Weg auf jeden Fall darin, ihr politisches Engagement weiterzuführen – allerdings ohne dabei selbst am Bett zu stehen.


Weitere Infos sowie regelmäßige Updates zum Streik und den Verhandlungen findet ihr auf Instagram: @notruf.nrw und @muenstercares.

Oder unter www.notruf-entlastungnrw.de sowie www.muenster-cares.de.

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