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Der große Brockhaus – Eine Medienwandel-Episode    

Mächtig stand der große Brockhaus in dem alten Schrank ihrer Eltern, die goldenen Lettern auf den Einbänden der zwölf großformatigen Bände glänzten im Licht der schweren Nachmittagssonne, das seinen Weg durch die Zimmer in den dunklen Flur fand, an dessen Ende die Nachschlagewerke ihren Platz hatten oder zumindest gehabt hatten, das eine oder andere Werk war schon verschenkt, das philosophische Wörterbuch bereits von ihrem Neffen übernommen worden. Jeder Foliant war in grün und rot gebunden und von einem eigenen, schlicht gehaltenen Schuber umschlossen. War das Mammutwerk, in dem sich eine konzentrierte Summe einstigen Weltwissen manifestierte, noch vor kurzem, wie alles im Haus ihrer Eltern, von gerahmten Bildern und Figuren teilweise verdeckt worden, thronte es nun, da die meisten dieser unzähligen Kleinigkeiten in Kartons und Kisten verpackt worden waren, unbefangen und frei in seiner ganzen, für sie immer nur niederschmetternden Ausstrahlung auf dem Regalbrett, das es allein zur Gänze ausfüllte. Auch andere Werke hatten sie seit ihrer Kindheit beeindruckt und noch bei jedem Besuch dieselbe kindliche Ehrfurcht zumindest leise wiederbelebt: der zwölfbändige Duden etwa, der die deutsche Sprache, nicht nur die amtliche Rechtschreibung, sondern auch die Aussprache, die Grammatik, die Fremdwörter und die Idiomatik, in sich trug, ebenso wie die gesammelten Werke deutscher Klassiker, allen voran die stolze Hamburger Ausgabe der Werke Goethes, welche den wenig beleuchteten Flur auf seinem Weg zum großen Brockhaus, dessen majestätischer Anblick sie erneut angezogen hatte, flankierten. Doch keines dieser Druckerzeugnisse, mit und neben denen sie aufgewachsen und deren Geist sie zugleich seit der Jugend entwachsen war, wirkte noch heute vergleichbar auf sie wie der große Brockhaus, der nicht nur Bildung, sondern eine besondere Form unangreifbaren Wissens, eine besondere Autorität und Verfügbarkeit sicherer Information verkörperte und symbolisierte, wie es etwa nicht das Meyers Konversations-Lexikon, dessen Ausgabe aus den späten 1930er Jahren ihre Eltern auch in ihrer Kindheit schon als veraltet angesehen hatten, erst recht nicht die digitalen Enzyklopädien des postfaktischen Internetzeitalters hatten tun können. Das Nachschlagewerk, dessen Anfänge bis ins ausgehende 18. Jahrhundert zurückreichten und das seit 1809 in dem von Friedrich Arnold Brockhaus gegründeten Leipziger Verlag erschienen war, hatte sich in der Vorrede zur 11. Auflage von 1868 im Geiste der Aufklärung und des Humboldt’schen Bildungsideals die „Flüssigmachung und Popularisierung der wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Ergebnisse, nicht für die geschäftliche Praxis, sondern für die Befriedigung und Förderung der allgemeinen Bildung zur Aufgabe“ gemacht und war ihren Eltern und vielen anderen ihrer und der vorhergehenden Generationen nicht nur zur Gewohnheit, sondern zu einer Institution, ihr jedoch, der es doch aus der Kindheit vertraut war, schon fremd geworden. Die Auflage, die nun vor ihr stand, war die 16., angeblich „völlig neu bearbeitete“, die von 1952 bis 1957 erschienen und Anfang der 1960er Jahre, noch vor ihrer Geburt, Eingang in die Bibliothek des Elternhauses gefunden hatte und neben den 12 Nachschlagebänden noch drei weitere Bände, die Ergänzungen und Landkarten enthielten, umfasste. Unvergesslich war ihr, wie sie bei unzähligen Gelegenheiten geschickt worden war, um einen der schweren Folianten aus dem Regal zu heben, immer, und das kam oft vor, wenn sich die Eltern in einer Zeit vor Google in irgendeiner Sache nicht einig gewesen waren. Wann genau noch einmal der erste deutsche Bauernkrieg gewesen war; welche Ströme im Nationalismus der Revolution von 1848 das Deutsche Reich hatten begrenzen sollen; ob Franz Liszt auch eine Oper komponiert habe; und in welchem Jahr Thomas Manns Tod in Venedig veröffentlicht worden war: diese und viele andere Fragen versetzten die Familie in Unruhe und konnten nur durch die uneingeschränkt anerkannte Autorität des großen Brockhaus beigelegt werden. Sie schickte man, den jeweils nötigen Band zu holen. Zu Anfang hatte sie sich auf die Zehenspitzen stellen müssen, um das etwas höher gelegene Regalbrett zu erreichen und hatte immer Mühe gehabt, den Band den Flur hinunter, an Goethe und Schiller, an Heine und Grillparzer vorbei bis ins Esszimmer zu tragen, wo die Familie sie erwartete. Meist hatte der Vater das wuchtige Buch auf seinen breiten Schoß genommen und umständlich seine Lesebrille aus der Brusttasche seines Hemds gezogen. War einmal eine eindeutige Auskunft gefunden, die mal zugunsten des Vaters, mal zugunsten der Mutter ausfiel, galt die Streitfrage als erledigt; denn es wäre keinem der beiden eingefallen, die Richtigkeit und damit die Autorität des Standardwerks in Zweifel zu ziehen, und wenn auch widerwillig, sah man ein, wenn man im Unrecht war; während sonst noch jedes andere Buch, das ihnen widersprach, durchaus dem Misstrauen der Eltern ausgesetzt zu werden Gefahr lief. Der Brockhaus aber hatte das letzte Wort, war vielleicht nicht die Heilige Schrift, aber doch das Grundgesetz der Familie – selbst noch in den letzten Jahren der Eltern, als längst neue Auflagen der Enzyklopädie erschienen waren und über das Internet der aktuelle Stand der Wissenschaft, der den alten Brockhaus bisweilen Lügen strafte, in Echtzeit verfolgt werden konnte. Anfang der 80er war sie ausgezogen und hatte versucht, gerade diese Art von Autorität hinter sich zu lassen; sich spätestens seit den späten 2000ern geweigert, den Eltern einen Brockhaus-Band zu holen, manchmal gegoogelt, was bis zuletzt nie dieselbe Wirkung auf die Eltern ausübte. 2009 übernahm der zum Bertelsmann-Konzern gehörige Wissen Media Verlag die Brockhaus-Enzyklopädie von ihrem namensgebenden Verlag. Der 21. Auflage, die bis 2014 erschien, waren über Text und Bilder hinaus eine Audiothek auf 2 DVDs beigelegt – es war die letzte gedruckte Ausgabe der Brockhaus Enzyklopädie, die den Titel „Der große Brockhaus“ damals schon seit über 30 Jahren abgelegt hatte. 2015 erwarb der Verlag der schwedischen Nationalenzyklopädie die Markenrechte und stellt die Brockhaus-Enzyklopädie seither als kostenpflichtigen Online-Dienst zur Verfügung.

von Jesko Veenema

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