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„Gerade jetzt braucht mich doch mein Land“

Die USA wählen zwischen Kamala Harris und Donald Trump. Selten zuvor stand mehr auf dem Spiel. So geht es auch Adelheid Voskuhl. Vor 26 Jahren wanderte sie in die USA aus. Nun steht sie vor der vielleicht bedeutesten Wahl ihres Lebens.

Die Teller der meisten Gäste sind bereits leer im Down Home Diner im Zentrum Philadelphias. Auch Adelheid Voskuhl (53) hat ihre Pfannkuchen und Baconscheiben fast aufgegessen. Das bequeme Deckenlicht strahlt auf ihr Gesicht, als sie mir aufgeregt einen kleinen Flyer hinhält. Ein Spickzettel der Demokraten, erklärt sie, mit verschiedenen Kandidaten für alle möglichen Ämter. Ganz oben auf der Liste: Kamala Harris und Tim Walz. Sie putzt die letzten Reste vom Teller und bezahlt die Rechnung. Auf diesen Tag hat sie lange gewartet, denn heute geht sie endlich wählen.

Heidi, wie ihre Freunde und Kollegen sie nennen, ist 1998 als Diplomphysikerin aus Oldenburg in die USA nach Ithaca (New York) gezogen, um ihren Doktor in Wissenschaftsgeschichte zu machen. Es waren vor allem die beruflichen Aussichten, die sie nach Amerika brachten, doch auch die kulturelle Freiheitsbewegung, die damals durch die Universitäten der USA ging, begeisterte die junge Deutsche.

„Ich habe in Deutschland immer amerikanische Detektivromane von Katherine Forrest gelesen, in denen eine erfolgreiche lesbische Frau die Heldin ist. Da meinten meine Freunde immer, das kannst du sein.“

Mittlerweile hat sie genau das erreicht: Sie ist Professorin für Wissenschaftsgeschichte an der Universität in Philadelphia und wohnt in einem altmodisch schönen Loft mitten in der Stadt. Ihre Geschichte zeigt, dass in diesem Land vieles möglich ist, egal woher man kommt. Vor allem in den liberalen

Städten wie Philadelphia stehen Gleichberechtigung und LGBTQ- Rechte weit oben auf der Agenda.

Dass Heidi an diesem sonnigen Dienstag nun eine Frau ins höchste Amt der USA wählen kann, löst jedoch nur wenig Begeisterung bei ihr aus. Zu traumatisch seien die Erlebnisse der Wahlnacht 2016 gewesen, als Hillary Clinton überraschend Donald Trump unterlag. Damals durfte Heidi noch nicht wählen. Trotzdem besuchte sie mit ihren Freundinnen zahlreiche Veranstaltungen, legte sich T-Shirts zu und fieberte in die Wahlnacht hinein, nur um dann schwer enttäuscht zu werden. Eine Rückkehr nach Deutschland kam für sie aber nicht infrage. „Ich dachte mir, gerade jetzt braucht mich doch mein Land.“ 2019 bekam sie dann endlich ihre Staatsbürgerschaft, mit einem kleinen Makel.

„Die Unterschrift auf dem Zertifikat ist leider von Trump“, sagt sie lachend. Trotzdem war die Einbürgerung für sie ein wichtiger Schritt. Davor, erzählt sie, hatte sie sich als Inhaberin einer Green Card immer wieder Sorgen gemacht, zu denen zu gehören, die Trump als unerwünscht betrachtet. Von dem mit der Staatsbürgerschaft kommenden Wahlrecht macht sie schnell Gebrauch und hilft Joe Biden mit ihrer Stimme 2020 den Swing State Pennsylvania und somit die Wahl zu gewinnen. Es waren damals 10.000 Stimmen aus Philadelphia, die CNN dazu brachten, Biden als Sieger auszurufen. Sofort brachen damals in ihrem Viertel die Feierlichkeiten aus. Ihre Nachbarn hauten auf Töpfe und tanzten in den Straßen. Heute, genau vier Jahre später, ist sie wenig überrascht, dass Donald Trump trotz seiner Straftaten und dem 6. Januar wieder kurz vor einer Rückkehr ins Weiße Haus steht.

„Die Amerikaner sehen den Demokratiebegriff nicht so wie wir Deutschen.“
Jedoch nimmt sie ihre Mitbürger in Schutz. Deutschland hatte nach der NS-Zeit die Möglichkeit, sich neu und demokratischer aufzubauen, jedoch nur, weil wir Deutschen erst in extremer Form gegen das grundlegende Recht verstoßen haben.

„Als ich zur Schule ging, war der Holocaust kaum 30 Jahre her. All die Warnungen aus unserer Geschichte haben uns geholfen, Autokraten als Gefahr zu sehen. Die Erfahrung fehlt den Amerikanern.“

Trotzdem ist sie für den Abend wie sie sagt nauseously optimistic, also optimistisch mit ein wenig Übelkeit. Gerade auch, weil sie weiß, dass ihre Stimme auch dieses Jahr wieder doppelt zählen wird.
„No pressure“, murmelt sie immer wieder auf dem Weg ins Wahllokal, das in ihrem beschaulichen Altstadt-Viertel liegt. Anstehen muss sie am Vormittag nicht, denn die meisten Wähler in Philadelphia wählen in den frühen Morgenstunden und spät am Abend, da der Wahltag hier kein Feiertag ist.
Es dauert also nicht lange, bis Heidi zufrieden mit einem „I Voted“-Sticker auf der Brust aus dem Gemeindehaus kommt. Sie hat ihre Aufgabe erledigt.

„Democrats up and down the Ballot“, also auf dem ganzen Wahlzettel, erklärt sie. Fast zeitgleich verlässt ein afroamerikanisches Pärchen mit ihrer Tochter das Wahllokal. Auch das kleine Mädchen hat von ihren Eltern einen Sticker bekommen, der stolz auf ihrem rosa „Madame President“ Pullover klebt. Heidi tauscht sich lachend mit dem Pärchen aus. Eigentlich kann jetzt nichts mehr schiefgehen. Die Nachrichten will sie zu Hause nur nebenbei verfolgen. Für eine Wahlparty ist die Angst vielleicht noch zu groß. Doch auch in ihrer Wohnung ist die Nervosität zu spüren. Die Livestreams laufen im Hintergrund, der Ticker der Washington Post ist stets offen. Dann kommen die ersten Ergebnisse. Trump schneidet stark im Süden ab. Harris bleibt nun nur noch der Weg über den mittleren Westen. Schon wieder richten sich alle Augen auf Pennsylvania. Es könnte ein langer Abend werden. Für Heidi wird es zu viel. Sie entscheidet sich, schlafen zu gehen und morgen früh weiter die Wahl zu verfolgen. Doch dazu wird es nie kommen. Im mittleren Westen ist es zwar knapper, jedoch wird schnell allen in der Stadt klar, dass es für Harris nicht reichen wird. Die Ersten gehen gegen Mitternacht nach Hause. Eine Mutter sucht mit ihrem Sohn den Weg in eine Bar, um sich zu betrinken. Am nächsten Morgen ist Trump der Sieger. Um 07:54 Uhr erreicht mich eine WhatsApp von Heidi.

Scheisse“

von Clemens Stein

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