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Verschwundene Geschenke

Serien und Filme haben als Weihnachtsgeschenke fast völlig ausgedient. Warum das ein großer Verlust ist.

Es gibt Geschenke, die einfach nicht mehr funktionieren. Kochbücher haben im letzten Jahrzehnt drastisch an Relevanz verloren, zu unendlich die kostenlose Auswahl an Fenchellachs und „Weihnachtsgans mal anders“ im Internet. iTunes-Gutscheine braucht niemand mehr, weil die Zeit der kostenpflichtigen Klingeltöne und des Bezahlens pro Musiktitel vorbei ist. Nicht jedes rückläufige Geschenk ist freilich ein Verlust – weniger Starlight-Express-Karten an Heiligabend als in den frühen 2000ern wären durchaus zu begrüßen, weniger selbstgenähte Handytaschen von Tanten zweiten Grades auch. Eine Geschenkgruppe aber, die fast vollständig verschwunden ist und deren Fehlen mich jedes Jahr ein bisschen trauriger macht, ist ein schwerwiegender Verlust: das Verschenken von Serien und Filmen. Erinnert ihr euch an einen Film, den ihr geschenkt bekommen habt und über den ihr beim Auspacken schon wusstet: Den hätte ich mir nicht einmal in der dreckigen Videothek um die Ecke ausgeliehen, geschweige denn gekauft, aber „Vielen herzlichen Dank, wie schön!“ Und erinnert ihr euch auch noch daran, ob solche Filme nicht vielleicht manchmal die waren, die ihr am dringendsten brauchtet und die euch niemand anders hätte schenken können als dieser Verwandte mit diesem Filmgeschmack, der dem euren überhaupt nicht ähnelt? Und bestand nicht darin das ganze Geheimnis des Geschenks?

Nie werde ich das erste Weihnachtsfest nach dem Auszug aus meinem Elternhaus vergessen, an dem ich in der hellen Wärme des 24. schon wusste, dass ich eine Woche später wieder in der seltsamen Leere des ersten WG-Zimmers und der ersten Monate eines Erwachsenenlebens sitzen würde, ohne Eltern und Geschwister, ohne Biberbettwäsche, ohne Nussknacker. Als ich dann Veronica Mars in den Händen hielt, war ich sicher, mein Bruder habe meinen Filmgeschmack verfehlt. Was soll ich sagen? Veronica begleitete mich durch Wochen des Neuen, Tage des Verlorenseins und Nächte des Vermissens. Nun stellt euch vor, er hätte einfach zwischen Tür und Angel gesagt: „Veronica Mars könnte dir gefallen“ und mir den Streaminganbieter genannt. „Danke“, hätte ich freundlich erwidert, wäre in den Zug zurück in mein Alleinsein gestiegen und hätte niemals auch nur den Vorspann angeschaut. Die Pappbox mit den DVDs der ersten Staffel blickte mich so lange geduldig und nachdrücklich an, bis ich sie öffnete und in ihrer Welt verschwand.

Jeder kann heute alles streamen, DVDs zu verschenken ist also völlig obsolet geworden. Vielleicht aber gehört das zu den Dingen, die beibehalten werden müssen, obwohl niemand sie mehr braucht. Es macht einen Unterschied, ob man einen Film entdeckt oder ihn von einem nahestehenden Menschen geschenkt bekommt. Das Geschenk ist viel mehr als der Film. Das Geschenk ist eine Selbstoffenbarung. Es kann nicht im Willkürlichen oder Angedeuteten bleiben, es zwingt zur Entscheidung und erzählt mit dieser Entscheidung eine Geschichte über mich und meine Beziehung zum Gegenüber. Im besten Fall ist das Geschenk eine Kenntnis darüber, was gerade gebraucht wird, um das Leben zu bewältigen. Manchmal ist das Spannung, manchmal Lachen. Manchmal eine Biografie, nach der man dem eigenen Leben wieder etwas tapferer begegnet, manchmal Veronica Mars. Das Geschenkte bleibt untrennbar verknüpft mit dem Schenkenden und dem Zeitpunkt des Geschenks. Die Worte, die ungesagt mitgeschenkt werden, entfalten sich oft erst nach Jahren. Schenkt euren Liebsten Serien und Filme in haptischer Ausführung, auch, wenn alles mit einem Klick abrufbar ist. Und, falls nötig, noch einen portablen DVD-Schlitz dazu.

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