Trump, AfD, Front National und Co. Der Rechtsruck in der transatlantischen internationalen Politik kommt nicht von ungefähr. Ein Grund ist die Abkopplung eines Teils der Gesellschaft durch das Bildungssystem: der Kinder mit sogenannter „niedriger“ sozialer Herkunft. Um dem entgegenzuwirken, wurde bereits vor 15 Jahren an der WWU das Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende (FikuS) gegründet. Bisher einzigartig.
Mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten zeigt sich die Gefährlichkeit eines Faschisierungsprozesses, der auch in Europa und in Deutschland stärker werden wird. Gewählt wurde Trump vor allem von weißen Männern ohne College-Abschluss in den deindustrialisierten Gebieten der USA. Auch in Deutschland muss sich damit auseinander gesetzt werden, denn weniger als 17 Prozent der AfD-Wähler haben das Abitur erlangt, bei Bündnis 90/Die Grünen sind es hingegen über 40 Prozent. Bei der Stichwahl in Österreich zum Bundespräsidenten stimmten 85 Prozent der Arbeiter für Norbert Hofer, den Kandidaten der rechtsextremen FPÖ und nur 15 Prozent für Alexander Van der Bellen, den Kandidaten der Grünen. Von den Wählern mit Universitätsabschluss stimmten hingegen 83 Prozent für den Grünen und nur 17 Prozent für den FPÖler. Diese extremen Unterschiede sind neu und erklärungsrelevant. Der Soziologe Didier Eribon berichtet ähnliches für Frankreich. Seine Verwandten, hauptsächlich Fabrikarbeiter, die vor vierzig Jahren noch links wählten, wählen heute Front National. Didier Eribon spricht in seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ von einem „Klassenrassimus“, der sich gegen die Menschen mit sogenannter „niedriger“ sozialer Herkunft wende, womit er die Abwertung und Ausgrenzung von Menschen aus den sogenannten „unteren“ Milieus meint. Dieser Klassenrassismus findet sich nicht nur in rechten Parteien, sondern auch linke Parteien und Organisationen haben in den letzten Jahrzehnten über die Interessen ärmerer Bevölkerungsgruppen hinweggesehen. In gewisser Weise haben sich die sozialdemokratischen Parteien seit Mitte der 90er Jahre in Großbritannien, Frankreich und Deutschland mit ihrem „Weg in die Mitte“ entsozialdemokratisiert – dies rächt sich nun im rechten Wahlverhalten des links liegen gelassenen Milieus.
Der PISA-Schock 2001
Der PISA-Schock vor fünfzehn Jahren, der damit konfrontierte, dass Deutschlands Bildungssystem zu den sozial selektivsten der OECD gehört, hat bislang zu keinen strukturellen Änderungen geführt. Wie die Ende 2016 veröffentlichten PISA-Ergebnisse zeigen, ist die soziale Selektivität im deutschen Schulsystem nach fünfzehn Jahren weiterhin messbar größer als die im OECD-Schnitt. Im PISA-Bericht wird nach wie vor das deutsche mehrgliedrige Schulsystem für diese Benachteiligung verantwortlich gemacht. Eine IGLU-Studie zeigt auch äußerst signifikanten Zahlen, die die strukturelle Benachteiligung von Nicht-Akademikerkindern durch die frühe soziale Selektion beweisen.
Laut Grundgesetz dürfte es überhaupt keine Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft geben. Es als Erfolg zu feiern, dass wir uns nach fünfzehn Jahren dem Durchschnitt der Bildungsbenachteiligung annähern, ist zynisch. Mit bildungspolitischen Maßnahmen wie G8 und der weitgehenden Umsetzung des Bologna-Prozesses im Hochschulbereich wurde die strukturelle Benachteiligung von Menschen mit sogenannter „niedriger“ sozialer Herkunft sogar noch verschärft. Auf die Umsetzung der „sozialen Dimension“ im Bologna-Prozess wurde in Deutschland verzichtet. Die Kopplung von Bildungserfolg und Berufsmöglichkeiten ist in Deutschland stärker als in anderen Staaten. Mit der Einsetzung der Verfolgungsbetreuung durch Hartz IV findet eine weitere Ausgrenzung statt. Und die ersatzlose Streichung des Erziehungsgeldes für ärmere Familien – monatlich 300 Euro – im Jahr 2006 war keine Glanzleistung zur Bekämpfung von Kinderarmut. Antidiskriminierungsgesetze verzichten auf europäischer Ebene und insbesondere in Deutschland auf die Wahrnehmung klassenbezogener Diskriminierung. Weder die Diskriminierung von Obdachlosen, von Arbeitslosen, oder aufgrund sozialer Herkunft werden medial oder in den Antidiskriminierungsgesetzen oder -vereinbarungen rechtlich ernst genommen. Als Ende der 90er Jahre die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien formuliert wurden, sollten von den ursprünglich sieben Diskriminierungsformen nur noch drei für die Antidiskriminierungsgesetze relevant bleiben. Doch entsprechende politische Selbsthilfegruppen sorgten dafür, dass Behinderung, Alter und sexuelle Orientierung nicht aus dem Katalog entfernt wurden. So wurde nur die „Diskriminierung, aufgrund der sozialen Herkunft“ gestrichen , denn es gibt in diesem Bereich noch keine Gruppe, die sich für die Interessen von Nicht-Akademikerkindern einsetzt. Es gibt keine politisch relevante Selbstorganisierung von Arbeiterkindern, scheint es so als müssten deren Interessen auch nicht berücksichtigt werden. Parteien sind daran interessiert, gewählt zu werden und Akademiker üben sehr viel Druck aus, da sie Angst haben, dass ihre Kinder nicht ausreichend privilegiert werden. Die aktuelle Entwicklung könnte die etablierten Parteien allerdings zum Umdenken zwingen, denn die fortgesetzte Ausgrenzung von Arbeiterkindern im Bildungssystem führt nun zu einem Problem, welches schwerer wiegt als die Privilegierungsinterressen der Eltern mit akademischen Hintergrund.
Die Direktive 54
Die Alliierten forderten 1947 im Zuge der Entnazifizierung Deutschlands mit der Direktive 54 einen strukturellen Wandel des Bildungssystems. Das Schulgeld sollte abgeschafft werden. Ebenso sollte das mehrgliedrige Schulsystem abgeschafft und durch eine gemeinsame Schule für alle ersetzt werden. Nach Meinung der alliierten Zook-Kommission war die soziale Selektivität ein wichtiger Bestandteil zur Schaffung einer deutschen Untertanenmentalität, die das nationalsozialistische Regime so gut funktionieren ließ. In den westlichen Zonen wurde mit ideologischer Unterstützung von nationalsozialistischen Forschern wie Karl Valentin Müller, der 1946 in einer fragwürdigen Studie behauptete, es gäbe drei unterschiedliche „Begabungstypen“, und der bis Ende der 60er-Jahre gern gesehener Gast bei den Philologentreffen der Gymnasiallehrer war, verhindert, dass die Direktive 54 umgesetzt wurde.
Das heißt, die ‘strukturelle Entnazifizierung’ des Bildungssystems, die Umsetzung der Direktive 54, steht noch aus und sie sollte angesichts der Faschisierungsprozesse nun schnellst möglich verwirklicht werden. Lehrer und Eltern sollten angesichts dieser akuten Bedrohung der Demokratie überlegen, ob eine weitere Privilegierung von Akademikerkindern wichtiger ist als die Durchbrechung der aktuellen faschistischen Tendenz.
Politische Selbstorganisation
Eine Demokratie lebt nicht nur von den Parlamentswahlen, sondern auch von der Möglichkeit der politischen Interessenvertretung von gesellschaftlichen Gruppen, die von Diskriminierung betroffen sind. Sämtliche Bildungsstudien bestätigen eine vielfältige Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft im Bildungsbereich. Diese beginnt durch das einkommensabhängige Elterngeld bereits vorgeburtlich und endet selbst dann nicht, wenn ein Doktorgrad erreicht wurde, wie die Studien von Michael Hartmann zeigen. Es ist also erstaunlich, dass die einzige politische Selbstorganisierung von Arbeiterkindern in Deutschland bislang nur an einem Ort, nämlich in der Studierendenschaft der Uni Münster gelungen ist. Vor 15 Jahren gegründet, wurde sie erst zehn Jahre später in die Satzung der Studierendenschaft aufgenommen. Wenn es eine Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft gibt, dann müssen sich die davon Betroffenen zusammenschließen und diese Diskriminierung abschaffen. Die Gesellschaft und der Staat haben diese Gruppe dabei zu unterstützen. Dies ist bislang nicht gelungen, wenn das FikuS-Referat in Münster außen vor gelassen wird. Neben der Notwendigkeit, die Ursachen der Diskriminierung zu erkennen und abzuschaffen, kommt der Selbstorganisierung von Arbeiterkindern im akademischen Milieu nun aber eine neue Aufgabe, eine antifaschistische Aufgabe zu. Denn es sind vor allem ihre Verwandten, die rechts wählen und die Familienkonflikte sind oftmals vorprogrammiert. Studierende Arbeiterkinder werden im Englischen auch „Straddler“, abgeleitet von „to straddle“, auf Deutsch „spreizen“, genannt. Damit ist gemeint, dass sie mit einem Bein in der Arbeiterkultur, aber mit dem anderen Bein in der Akademikerkultur stehen. Diese Spreizung beginnt bereits in der Schule und wird an der Hochschule immer stärker. Sie droht die Straddler zu zerreißen und nicht wenige entscheiden sich, eine der Kulturen für immer hinter sich zu lassen. Wichtig wäre es, beide Kulturen zusammenzubringen, kohärent zu machen, um sich selbst kohärent zu machen. Eribon beschreibt, wie er sich von seiner Herkunftskultur, der Arbeiterkultur entfernte. Dies ging nur durch einen vollständigen Bruch und er bereute Jahre später, als er nach Reims zu seiner Familie zurückkehrte, dass er sich der Scham, aus der Arbeiterkultur zu stammen, nie gestellt hatte. Wie er sind viele Arbeiterkinder auf sich allein gestellt, wenn sie ihre Familien treffen und mitbekommen, wie sich nicht nur die kulturelle, sondern auch die politische Kluft weitet. Wenn vor allem die Männer wie zum Beispiel Väter, Brüder, Cousins, aber auch ehemalige Freunde aus dem eigenen Herkunftsmilieu plötzlich Sympathien für rechte Hetze entwickeln. Schon allein deshalb ist es wichtig, dass Arbeiterkinder im Studium erfahren, dass sie nicht allein sind, sondern dass sich viele in ähnlichen Situationen befinden und sich ähnlich ohnmächtig fühlen. Wenn ein Großteil der Wähler rechter Parteien von sich selbst sagen, dass sie sich gesellschaftlich abgehängt fühlen, dann entspricht dieses Gefühl sehr wahrscheinlich der Wahrheit und die wenigen Arbeiterkinder aus diesen Milieus sind die einzigen Kontakte zur wirkmächtigen Gesellschaft, aus der sie abgehängt wurden. Studierende Arbeiterkinder haben es also nicht nur individuell mit einer größer werdenden Spreizung zwischen Herkunftskultur und akademischer Kultur zu tun, sondern auch mit einer gesellschaftlichen Spaltung, in der sie das Gummiband darstellen. Sich kohärent zu arbeiten, ist also nicht nur ein individuelles und persönliches Problem, sondern ein gesellschaftliches. Gesellschaftliche Probleme können nur gesellschaftlich gelöst werden, das heißt mit einer politischen Organisierung, durch einen Zusammenschluss von studierenden Arbeiterkindern. Es obliegt also vorrangig den studierenden Arbeiterkindern, die „vergessene“ Direkte 54 im Entnazifizierungs-Programm nachträglich umzusetzen, also die Gymnasien abzuschaffen und eine gemeinsame Schule für alle einzuführen. Wichtig wäre die Schaffung von autonomen Referaten studierender Arbeiterkindern wie dem FikuS-Referat in Münster. Es ist die Aufgabe des FikuS- Referat in Münster eine Vorreiterrolle einzunehmen und die Initiative zu ergreifen.
Andreas Kemper ist Soziologe und Publizist. Er initiierte 2003 die Gründung des FikuS-Referats an der Uni Münster. Kemper engagiert sich in der profeministischen Männerbewegung und befasst sich mit sozialen Themen. Zuletzt erschien von ihm „Sarrazin Correctness. Ideologie und Tradition der Menschen- und Bevölkerungskorrekturen“.