Freispruch bedeutet keine Unschuld – warum wir laut werden müssen

Kundgebung vor dem Konzert von Till Lindemann in Münster – Ein Kommentar

Im Mai erhob Shelby Lynn erstmals Vorwürfe gegen den Sänger Till Lindemann. Danach berichteten der NDR und die Süddeutsche Zeitung über mehrere Frauen, die Lindemanns systematischen Machtmissbrauch bezeugen. Zwei Frauen berichteten von sexuellen Handlungen, denen sie so nicht zugestimmt hätten. Der Sänger der Band Rammstein soll junge weibliche Fans systematisch zu “After-Show-Partys” eingeladen haben, sie dort durch Alkohol und mutmaßlich K.O.-Tropfen betäubt und anschließend zwischen seinen Sets Sex mit ihnen gehabt haben. Dieses Machtsystem wird von mehreren Frauen bezeugt.

Im August wurden die Ermittlungen gegen Lindemann laut Angaben der Generalstaatsanwaltschaft Berlin eingestellt. Die Beweise würden nicht ausreichen, so die Begründung. 

Das Rechtssystem, die höchste moralische Instanz, hat gesprochen, für Millionen von Rammstein-Fans ist die Sache klar: Wir glauben Till Lindemann. Was heißt das? Die betroffenen Frauen lügen für Aufmerksamkeit. Misogyne Narrative at their best. Das ist eine Ohrfeige an alle Opfer sexualisierter Gewalt, eine Ohrfeige an alle Frauen in diesem Land. Es geht nicht um Till Lindemann, es geht nicht um Julian Reichelt oder Johnny Depp. Es geht um eine Gesellschaft, in der Frauen systematisch unter Gewalt leiden und wieder und wieder mundtot gemacht werden. Die betroffenen Frauen stehen am Ende als naiv, ruhmsüchtig oder verrückt da. Und die Herren? Die genießen weiterhin ihre privilegierte Situation in unserer Gesellschaft. Auf den Bühnen, hinter den Mikrofonen und in den sozialen Medien. 

Wir sind so misstrauisch gegenüber den Vorwürfen sexueller Übergriffe. Im vergangenen Jahr wurden 11.339 Frauen Opfer von Vergewaltigungen, während 665 Männer betroffen waren (1). Bundesfrauenministerin Lisa Paus sagte im Juli, jede Stunde würden mehr als 14 Frauen Opfer häuslicher Gewalt (2). Wann fangen wir an, den Betroffenen zuzuhören, anstatt sie zu diffamieren? Wann fangen wir an, mutmaßlichen Tätern zu misstrauen? Gewalterfahrungen sind für die Betroffenen schambehaftet und traumatisch. Alleine das ist Grund genug dafür, diese Erfahrungen nie mit jemandem zu teilen, geschweige denn sie zur Anklage zu bringen. Aber wie viel schwerer ist es, von einer Vergewaltigung zu berichten, wenn die Gesellschaft dir von vorne herein misstraut? Wenn du mit deiner traumatischen Erfahrung in ein gesellschaftliches Klima trittst, das dir überhaupt nicht glauben möchte? Wenn das der Fall ist, müssen wir laut werden. Dann müssen wir uns hinter Betroffene stellen, auch, wenn die Gerichte es nicht tun (können). Die Gerichte sind die höchste moralische Instanz in unserem Land, aber sie stehen nicht im luftleeren Raum. Sie existieren inmitten von gesellschaftlichen Machtstrukturen. Es ist ein spezifisches Problem von Straftaten wie häuslicher und sexueller Gewalt, dass es häufig keine eindeutigen Beweise dafür gibt. Und daher bedeutet ein justizieller Freispruch oder die Einstellung von Ermittlungen besonders in diesen Fällen keine Unschuld. Deswegen ist es die Aufgabe der Zivilgesellschaft, diese Machtstrukturen anzuklagen. Die Aufgabe von uns allen. Und daher frage ich mich: Wann fangen wir endlich an, den Opfern misogyner Gewalt zu glauben? Wann fangen wir an, die Realität zu sehen.

Info: Am Sonntag, den 12. November, tritt Till Lindemann mit einem Solo-Konzert in der Halle Münsterland auf. Ab 18 Uhr findet vor der Halle Münsterland die Kundgebung “Keine Bühne für Täter” statt. Mehr Informationen dazu gibt es unter https://ms-alternativ.de/node/4292 und auf Instagram auf dem Account keinebuehnefuertaeter_ms.

Quellen:

  1. https://www.rnd.de/wissen/sexuelle-gewalt-gegen-frauen-wie-gross-ist-die-gefahr-in-deutschland-und-wo-finden-opfer-hilfe-6SA3LU53G5GX5KAKM5XCLTTESU.html
  2. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/zahl-der-opfer-von-haeuslicher-gewalt-steigt-deutlich-an-228266

Schreibe einen Kommentar