Neue Gewaltdynamiken

„Die schönste Version“ von Ruth-Maria Thomas und „Mein Mann“ von Maud Ventura haben einige Gemeinsamkeiten: Beide wurden zum wochenlangen Debüterfolg weiblicher Erstlingsautorinnen, beide wurden gleichermaßen zu Publikumserfolgen wie zu vielfach besprochenen Feuilleton-Lieblingen, beide Cover bilden ein weibliches, gemaltes Gesicht ab, das einen undurchschaubaren, unnahbaren, nahezu undeutbaren Gesichtsausdruck präsentiert. Und beide wollen sie erwartbare Machtdynamiken in heterosexuellen Beziehungen um eine weibliche Beteiligung ergänzen.

In Thomas‘ für den Deutschen Buchpreis 2024 nominierten Roman „Die schönste Version“ gleitet eine Beziehung der beiden Mittzwanziger Jella und Yannick ins Gewalttätige ab, erst schrittweise und schließlich im lebensbedrohlichen Angriff Yannicks auf Jella eskalierend. Keinesfalls wird dabei die schon vielfach dargestellte Machtdynamik von männlicher Aggressivität und weiblicher Passivität wiederholt: Obgleich Yannick der Aggressor – sowohl auf psychischer wie auch physischer Ebene – ist, antwortet Jella zumindest anfangs ebenfalls mit Gewalt. Das ist die wahrscheinlich größte Stärke des Romans: Die feinfühlige, vorsichtige Darstellung beidseitiger Gewalttätigkeit bei gleichzeitiger Eindeutigkeit der Täterschaft und Verantwortlichkeit. Dass eines der Gewaltinstrumente Yannicks außerdem die klassistische Abwertung von Jellas Herkunft ist, die Demütigung und Unterwerfung seiner Partnerin durch klassistische Sprachkritik und Diskreditierung ihrer Familienverhältnisse, gelingt Thomas‘ außerdem hervorragend: Die schädliche Gewaltdynamik des Paares wird erzeugt durch Yannicks Hierarchisierung ihrer unterschiedlichen Herkunft. Damit wird der Roman zum Bourdieu-Kammerspiel der beiden Hauptfiguren: Er kann Fisch filetieren, sie isst Fleischbroiler. Die Verschränkung von Klasse und Geschlecht wird hierbei von Thomas mitunter ein wenig überdeutlich, grundsätzlich aber klug und korrekt herausgearbeitet: Die klassistisch abgewertete Frau kann durch Attraktivität ins Bürgertum aufsteigen, wenn, ja, wenn es ihr gelingt, die Codes der oberen Mittelschicht zu erlernen. Jella isst weiter Fleischbroiler, verklagt den gutbürgerlichen Sohn Yannick und sitzt am Ende vor einem Therapeuten mit leeren Händen und mittellos, aber frei. Ein wirklich wichtiger Roman im Kontext von Klassenfragen, der weibliche Beteiligung an Gewaltdynamiken ungekünstelt und realistisch skizziert, ohne den Ursprung männlicher Gewalt zu relativieren.

Dieselbe Relevanz kann für den zweiten hier besprochenen Roman nicht behauptet werden. „Mein Mann“, Debütroman der Journalistin Maud Ventura und in Frankreich Überraschungserfolg des Jahres 2021 mit den meisten verkauften Debütromanexemplaren, liest sich zu Beginn wie ein Psychothriller à la „Gone Girl“, der Genderverhältnisse auf den Kopf stellen und neue Machtdynamiken in Beziehungen darstellen möchte: Die weibliche Erzählinstanz ist die devote, attraktive Ehepartnerin, die besessen ist von ihrem Mann, die nichts mehr begehrt als – von ihm begehrt zu werden. Die Handlungsdauer des Romans ist eine Woche, in der die Leserschaft nach und nach von ihren obsessiven, toxischen Verhaltensweisen erfährt – von ihrem peniblen System der krankhaften Gratifikation und Bestrafung ihres Mannes bei kleinsten Unaufmerksamkeiten. Anfangs überrascht dieses Abgleiten ins Pathologische, kurze Euphorie über eine neue, irritierende Frauenfigur tritt ein. Der Clou aber ist schnell auserzählt: Ja, auch Frauen können krankhaft agieren, auch Frauen können manipulativ sein. Das weiß die Leserschaft spätestens am Mittwoch der Romanhandlung, bis Sonntag dauert es dann leider noch ein wenig. Der schlussendliche Plottwist, der den Ehemann als noch grausameren Täter entlarvt und den Roman wohl unsterblich zu machen versucht, verschlechtert den Roman außerdem immens: Es fehlte der Mut, bei weiblicher Boshaftigkeit ohne Pardon zu bleiben, am Ende ist er doch schlimmer als sie. Laut der „Sunday Times“ hat dieser Roman einen Platz im gleichen Kanon wie„Jane Eyre“ und „Gone Girl“ verdient. Abgesehen von der Unverschämtheit, diese beiden Romane in denselben Kanon einzuordnen, hat „Mein Mann“ leider in keinem Kanon der mutigen, subversiven feministischen Literatur Platz.