Im Zuge des Projektes „Theater Jugend Orchester“ bringen junge Erwachsene zwischen 16 und 23 Jahren jedes Jahr ein selbst konzipiertes Stück auf die Bühne. Dieses Jahr entführt das Ensemble mit „Das Loch in der Leinwand“ sein Publikum in die schillernde, funkelnde Welt des Varieté-Theaters im Berlin der 1920er Jahre – eine Ära, die nach Champagner duftet, in der das Licht der Scheinwerfer auf glitzernden Kostümen tanzt und die Luft vo Sehnsucht, Leidenschaft und dem bittersüßen Hauch der Vergänglichkeit vibriert. Doch hinter dem goldenen Vorhang, hinter dem Rausch aus Musik und Applaus, lauern Schatten, die tiefer reichen, als es der erste Blick vermuten lässt.
Was als schwindelerregende Erfolgsgeschichte dreier Trapezkünstler*innen beginnt, verwandelt sich schon bald in ein Eifersuchtsdrama. Die Bühne, mal schillernde Manege, mal düsteres Kammerspiel, wird zum Spiegel einer Gesellschaft im Umbruch – und zum Schauplatz persönlicher Abgründe. Das Stück, inspiriert vom Stummfilmklassiker „Varieté“ von 1925, bricht mit den starren Strukturen seiner Vorlage: Hier werden die Stimmen der Frauen nicht mehr verschluckt – sie erklingen klar, vielstimmig, kraftvoll. In eigens verfassten Monologen verleihen die Darsteller*innen der weiblichen Hauptfigur eine neue, selbstbestimmte Perspektive und holen das, was im Stummfilm nur als Schatten durch den Raum glitt, ins grelle Licht der Gegenwart: die Reflexion über Selbstbestimmung, über sexualisierte Gewalt, über das Recht, gehört zu werden. Mit einem raffinierten Kunstgriff werden die Rollen getauscht – jede*r schlüpft in die Haut der anderen. So entlarvt das Spiel die alten Rollenbilder, lässt patriarchale Strukturen bröckeln und eröffnet Räume für neue Erzählungen, in denen Macht und Ohnmacht, Begehren und Angst, Freiheit und Zwang immer wieder neu verhandelt werden.
Die musikalische Untermalung ist dabei weit mehr als nur Begleitung: Sie ist das pulsierende Herz des Abends, schlägt mal wild, mal melancholisch, trägt das Publikum mit Gesang und Instrumentalklängen mitten hinein in das vibrierende Lebensgefühl der 20er Jahre. Die jungen Darsteller*innen brillieren nicht nur als Schauspieler*innen, sondern auch als Musiker*innen und Sänger*innen, lassen die Bühne mal zur schimmernden Party, mal zum intimen Chanson-Abend werden. Mit Mut, Feingefühl und einer Prise Glamour scheut sich das Ensemble nicht, auch die dunkelsten Kapitel der Varieté-Welt zu beleuchten. Gewalt, Eifersucht, Verrat – all das wird nicht ausgespart, sondern mit künstlerischer Finesse und großer Emotionalität inszeniert. Was bleibt, ist ein Abend, der das Publikum nicht nur in die Atmosphäre der Goldenen Zwanziger entführt, sondern auch die Fragen nach Macht, Geschlecht und Selbstbestimmung ins Hier und Jetzt holt. Bis zum 11.07. kann man sich das Stück noch im Theater Münster anschauen und sich von der Atmosphäre der 20er Jahre verzaubern lassen.
von Ida Timmers
Bildquelle: Sinje Hasheider