Begegnungen in ungewöhnlicher Konstellation

Münster hat in Sachen Theater eine Vielzahl an Schauplätzen zu bieten. Neben den großen Bühnen wie beispielsweise dem Theater Münster oder dem Wolfgang Borchert Theater finden sich unzählige kleine Einrichtungen in Münsters Straßen. Wer da mithalten möchte, muss herausstechen, muss dem Publikum etwas bieten, das es woanders nicht findet. Vor einem knappen Jahr, im Februar 2019, öffnete das Atheater erstmals seine Türen in der Steinfurter Straße 37. Der Eingang ist recht unscheinbar, der Raum hinter der Glasfassade vergleichsweise klein. In diesem Sinne wird Herausstechen schwer. Jedoch findet sich hinter den Fenstern ein Ort, an dem eindrucksvolle Geschichten erzählt werden, Gemeinschaft geschaffen wird und Abwechslung vorprogrammiert ist.

Foto: Atheaater

„Ich hatte schon ein bisschen Interesse, Theater zu machen, aber ich dachte, jetzt in Deutschland wird das gar nicht passieren, wegen der Sprachbarriere“, erzählt Meghrig Aro, Schauspielerin und Studentin, mit Blick auf die Anfänge ihrer Zeit beim Atheater. Aufgewachsen ist Aro in Syrien, später zog sie nach Deutschland. Auch die anderen Mitwirkenden des Atheaters haben eine Migrationsgeschichte. Gefunden haben sie sich über eine Sprachschule in Münster, an der der Regisseur und Schauspieler Andrej Lazarev eine Theater-AG anbot, mit der Möglichkeit, auf andere Art und Weise Deutsch zu lernen. Unter seiner Leitung wurde so vor sechs Jahren die freie Theater- gruppe Atheater gegründet. Auch Aro wurde über die Sprachschule auf die Schauspielgruppe aufmerksam, etwa eineinhalb Jahre nach ihrer Entstehung: „Als ich da war, war die Sprache eigentlich gar nicht wichtig Hauptsache man versteht sich irgendwie, mit Händen und Füßen oder in einer anderen Sprache.“

Neben Meghrig Aro und Andrej Lazarev bilden Karina Sadovskaja und Jevgeni Lotuchov den Kern der Gruppe, die von acht weiteren Schauspieler:innen, Musiker:innen und Künstler:innen komplettiert wird. Sie verständigen sich auf sieben unterschiedlichen Sprachen und verbinden Kulturen aller Kontinente miteinander. Diese Mischung hebt das Atheater hervor. Die Aufführungen zeigen, dass man nicht die gleiche Sprache beherrschen, geschweige denn aus der gleichen Kultur stammen muss, um den Anderen zu verstehen. Einzelne Passagen sprechen die Schauspieler:innen in ihrer Muttersprache, um einerseits ihren Emotionen besser Ausdruck zu verleihen, andererseits lässt die Verschleierung der Wortbedeutung den Zuhörenden mehr Interpretationsspielraum. Sie sind eingeladen, das Stück für sich selbst zu deuten und ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Im Anschluss an die Vorführung besteht die Möglichkeit, mit den Darsteller:innen die eigene Sichtweise in einer Diskussionsrunde zu reflektieren. Wichtig sei ihnen, dass „eine Ebene mit dem Publikum“ erzeugt wird, so Aro, denn „wir sind alle gleich.“ Diese Nähe schafft auch die Konstellation des Theaterraums: Es gibt keine erhöhte Bühne, durch bewegliche Module lässt sich der Raum immer wieder neu erschaffen. Mal sind die Sitzplätze in Reihen, dann im Kreis angeordnet, durch den sich die Schauspieler:innen bewegen, sodass die tradi- tionelle Grenze zwischen Publikum und Spielfläche verschwimmt. Oder die Gäste bekommen zum Abschluss ein Schälchen Suppe in die Hand gedrückt, die während der Aufführung auf der Bühne zubereitet wurde und werden so unweigerlich ein Teil der Installation.

Foto Atheater

Die unterschiedlichen Lebensgeschichten und Erfahrungen der Gruppe spiegeln sich in den Themen der Vorstellungen wider, die sich an aktuellen Fragen in unserer Gesellschaft orientieren: Heimat, Identität, Frausein, Flucht, Beziehungen in der modernen Welt, um nur einige zu nennen. Am Anfang der Entwicklung neuer Vorstellungen stehen lange Gespräche, der Austausch von Sichtweisen und Lebenserfahrungen. Wie war es in der Heimat, wie ist es nun in Deutschland? Bisher hat das Ensemble sechs Theaterstücke geschrieben und teilweise auf großer Bühne in Berlin oder dem Theaterfestival Playstation aufgeführt. Drei der Stücke wurden im letzten Jahr unter dem Motto „Starke Frauen“ im neuen Atheater hier in Münster gespielt.

Bemerkenswert ist, dass das junge Team alles alleine stemmt und selbstständig finanziert. Angefangen mit der Renovierung und Gestaltung der Räumlichkeiten und ihrer Einrichtung über das Entwerfen der Kostüme, des Bühnenbilds und der Organisation von Werbung und Onlinepräsenz bis hin zur Bedienung an Einlass und Bar. Ein ausreichendes finanzielles Auskommen springt dabei nicht heraus. „Wir arbeiten und studieren nebenbei, um das auch schaffen zu können“, erklärt Aro. Zeitweise gab es den Wunsch sich über Kooperationen mit professionellen Lehrer:innen eine staatlich anerkannte Ausbildung zu ermöglichen. Weil die Bemühungen jedoch keinen Erfolg hatten, beschlossen die Schauspieler:innen, sich selbst zu schulen und Hilfe zu holen, wo es nötig war: „Wir versuchen, immer neue Herausforderungen zu finden und dabei etwas zu lernen.“ Learning by doing, sprich: autodidaktisches Lernen. Daher das A in Atheater.

Zugleich möchte die Gruppe gemeinsam mit anderen Menschen aller Nationen ihr Theater gestalten. Raum dafür bieten nicht nur die Diskussionsrunden nach den Vorführungen, sondern vor allem die regelmäßigen Kurse, die von ihnen selbst oder ausgebildeten Lehrer:innen im Atheater angeboten werden. Ob Yoga, Kung Fu oder Theaterkurse für Anfänger und Fortgeschrittene, es scheint für jeden etwas dabei zu sein. Ein zeitweilig ausgesetzter Tanzkurs soll im neuen Jahr wieder aufgenommen werden. Angedacht sei außerdem ein abendliches, wöchentlich stattfindendes Theatercafé, ein Zusammenkommen, bei dem sich nach einem kurzen Input, beispielsweise in Form einer Lesung, eines Gedichtvortrags oder Musik, über Theaterthemen ausgetauscht werden soll. „Der Gedanke dahinter war, dass wir selber etwas lernen möchten und dann auch gerne mit anderen Menschen in Kontakt kommen.“

Daneben hat das Atheater im neuen Jahr natürlich auch wieder eine Reihe Theaterstücke im Programm, darunter eine Neuinterpretation von „Medea“ als Solostück, gespielt von Meghrig Aro, welches für Ende Februar angesetzt ist, sowie eine Wiederholung der poetischen Vorstellung „Du bist ich. Töte mich.“ Weitere Stücke seien in Planung. Wer neugierig geworden ist, darf also gespannt sein, womit das Atheater beim nächsten Besuch überrascht.

Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe des Semesterspiegels (#440). Weitere Inhalte findet ihr exklusiv nur im Heft (PDF).

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