Fußballpatriotismus oder Nationalismus?

Das Gemeinschaftsgefühl der EM – aber mit wem?

Große Deutschlandfahnen vor dem blauen Parteilogo, schwarz-rot-gold-Anstecker auf dem Blazer. Eine jubelnde Alice Weidel. Noch vor wenigen Tagen waren das die Bilder nach dem Wahlerfolg der AfD bei der Europawahl. 15,9 Prozent für die AfD, das bislang beste Ergebnis der Partei.

Fünf Tage später haben wir den Rechtsruck vergessen, die EM in Deutschland steht an, ein neues Sommermärchen. Plötzlich sind die Straßen voll mit Deutschlandfahnen, die Stadt ist voller biertrinkender Check24-Deutschlandtrikots – eine seltsame Ästhetik. „Endlich darf man mal stolz auf Deutschland sein“, sagen die Rechten und singen voller Inbrunst die deutsche Nationalhymne. Aber was bedeutet das heute, stolz auf Deutschland zu sein? Womit identifizieren wir uns und von wem grenzen wir uns ab? Wessen Diskurse bedienen wir? 

Ich war zehn, als Deutschland 2014 die Weltmeisterschaft in Brasilien gewann. Die Stimmung, die Lieder. Das werde ich nie vergessen. Wir haben mit der ganzen Nachbarschaft vor dem Fernseher gesessen, Chips gegessen und gejubelt. Im Radio lief „Auf uns“ von Andreas Bourani. Ich bin Teil der Generation der Fußballpatrioten. Wir haben nie die deutsche Nationalhymne gesungen, – außer beim Fußball. Nie haben wir die Nationalfarben getragen, – außer auf unseren Fantrikots. Wir haben gelernt, Nationalismus skeptisch zu sehen, – außer zu Meisterschaftszeiten. Im gleichen Jahr, in dem Deutschland die Fußball-WM gewann, zog die AfD erstmals in ein überregionales Parlament ein, das EU-Parlament. 

Jetzt ist es zehn Jahre später und ich bin erwachsen. Tag für Tag lerne ich mehr über migrantische Lebensrealitäten, über die Prekarität, die Unsicherheit, die Angst. Das hat mir vor zehn Jahren niemand beigebracht. Es gab da einen Jérôme Boateng in der Mannschaft, einen Mesut Özil, einen Sami Khedira. Ich erinnere mich daran, dass ein Nachbar sich beschwerte, dass „die alle“ die Nationalhymne nicht mitsingen würden. Mit „die alle“ waren nicht alle gemeint. Es waren ein Boateng, ein Özil und ein Khedira gemeint. Diejenigen, die sich das „Deutschsein“ erst verdienen mussten. 

2016 sagte AfD-Politiker Gauland, man wolle einen Boateng nicht als Nachbarn haben. 2018 trat Özil aus der deutschen Nationalmannschaft aus, nachdem er infolge eines Fotos mit dem türkischen Staatspräsidenten Reycep Erdoğan rassistisch angefeindet worden war. „Deutscher, wenn wir gewinnen, und ein Immigrant, wenn wir verlieren“, so beschrieb Özil seine Erfahrung in einem Statement auf X, ehemals Twitter. Eine traurige Bilanz für das „vielfältige“ Deutschland.

Ich bin heute nicht mehr zehn Jahre alt, aber ich würde mich gerne wieder so fühlen, wie in diesem Sommer der Weltmeisterschaft 2014. Ich würde gerne für Gündoğan und Neuer und Rüdiger jubeln, ich würde gerne ein Check24-Trikot tragen und mich über einen Sieg der deutschen Mannschaft freuen. Aber wenn ich heute bei einem Public Viewing inmitten von plötzlich zu Patrioten mutierten Deutschen stehe, fühle ich mich fehl am Platze. Ich frage mich, mit wem ich mich gerade für diese Mannschaft freue. Sind es diejenigen, die sich für ein offenes und vielfältiges Deutschland einsetzen wollen oder diejenigen, die in Remigrations-Fantasien schwelgen? Sind die beiden Jungs, die da vorne für die Nationalhymne aufgestanden sind, „Fußballpatrioten“ oder gehören sie zu den 25%, die mehr „weiße“ Nationalspieler in der Mannschaft haben wollen? Wo ziehen wir die Grenze? Wann schlägt Patriotismus in Nationalismus um und wie lange können wir noch zwischen „Fußballpatrioten“ und Neo-Nazis unterscheiden?

Heute verstehe ich, dass wir nie gedankenlos „patriotisch“ sein können. Wir konnten es vor zehn Jahren nicht und wir können es heute erst recht nicht. Und vielleicht ziehe ich mir beim nächsten Fußball-Spiel trotzdem ein Check24-Trikot an und jubele für die deutsche National-Elf. Aber mehr denn je müssen wir eine kritische Distanz zu dem aufstrebenden Nationalismus wahren, der sich womöglich als „Fußballpatriotismus“ tarnt. Wir müssen klarmachen, für welches Deutschland wir einstehen und wen wir davon ausschließen wollen. Für ein offenes und vielfältiges Deutschland. Gegen ein exklusives Nationalverständnis. Ich würde mich lieber nie wieder wie mit zehn fühlen, als neben einer Alice Weidel für gemeinsame Sache zu jubeln. 

Fußnote zu Özil: Die Kritik an Özil war in diesem Fall nicht ausschließlich rassistisch motiviert. Nach seinem Austritt aus der Nationalelf gab es zudem Vorfälle, die für eine rechtsextreme türkisch-nationalistische Einstellung des ehemaligen Nationalspielers sprechen. Insgesamt trugen rassistische Vorurteile, mit denen sich Özil konfrontiert sah, jedoch sicher auch zu seiner Entscheidung bei, die Mannschaft zu verlassen.