Nicht alles wie im Film

Ein Studium in der USA verbinden die meisten mit wilden College Partys und den klassischen Abschlusskappen, die uns auf Hollywoodfilmen bekannt sind. Dass das Studium für einen Großteil der Amerikaner jedoch nicht an einer der großen staatlichen Universitäten sondern mit einem Associate’s Degree an einem Community College beginnt, wissen viele nicht. Während meines Studiums am Community College in Bellevue in der Region um Seattle habe ich die Gelegenheit bekommen, den echten amerikanischen College-Einstieg mitzuerleben und zu erfahren, wie das Studentenleben aussieht, wenn man noch nicht 21 ist und somit als minderjährig gilt.

Wandern in und um Seattle.

Ich war 18 als ich mein Studium mit dem Hauptfach Kommunikation am Bellevue Community College begann und habe dort zwei Quartale absolviert, was  einem Semester an einer deutschen Universität entspricht. Das gesamte Bachelor-Studium in Amerika ist anders aufgebaut als bei uns: Es dauert typischerweise vier Jahre und ist zweigeteilt. Nach den ersten beiden Jahren, die viele Studenten an preislich günstigeren Community College’s absolvieren, wird der Associate’s Degree erworben. Anschließend kann man an eine staatliche Universität wechseln und dort nach weiteren zwei Jahren seinen Bachelor machen. Eine klare Spezialisierung des Studiums auf ein Hauptfach findet erst in den letzten zwei Studienjahren statt. Um den Associate’s Degree zu erwerben, müssen Credits in den fünf folgenden Bereichen gesammelt werden: Schriftliche Kommunikation, Quantitatives Denken, Geisteswissenschaften, Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften. So wird sichergestellt, dass Studenten zunächst ein breites Allgemeinwissen ansammeln, bevor sie sich auf ihr Spezialgebiet fokussieren.

Mir kam der Aufbau des Studiums sehr gelegen, da ich mir in der Wahl meines Studienfaches noch nicht sicher war und so die Möglichkeit hatte, in verschiedene Bereiche reinzuschnuppern. Zudem wusste ich bereits, dass mir ein komplettes Studium in den USA aus finanziellen Gründen nicht möglich war, und konnte die zwei Quartale als freies Ausprobieren meiner Interessen nutzen. Meine Auswahl an Seminaren war entsprechend breit: Von „Ethischer Theorie“ bis zu „Interkultureller Kommunikation“ und „Geschlechter in der sozialen Welt“ war aus allen Bereichen etwas dabei. Ich habe die Möglichkeit, in mehr als einem Fachbereich Kurse zu besuchen, sehr geschätzt und wünsche mir bis heute, dass dies auch an deutschen Universitäten mehr angeboten werden würde.

Meine Vorstellung vom Studium in Amerika haben sich nach dem Start des ersten Quartals schnell als falsch herausgestellt: Es wird nicht nur gefeiert, und man hat weitaus weniger Freizeit als Studenten in Deutschland. Statt eines einzigen großen Klausurenblocks am Ende des Semester gibt es in der Mitte jedes Quartal die „midterms“ als erste Leistungsüberprüfung und am Ende die „finals“ als Abschlussprüfung. Zwischen den beiden Prüfungen hat man meist nicht frei und muss Credits in Form von Referaten oder Aufsätzen sammeln. Außerdem ist die Anwesenheit in Seminaren ist nicht freiwillig, sondern für das Erwerben von Credits verpflichtend. Für uns deutsche Studenten klingt das unentspannt; doch für die Amerikaner ist das völlig normal.

Spanische Paelle, taiwanesische Teeparty und ungarische Musik

Der Großteil des alltäglichen Studentenlebens spielte sich auf dem Campus ab, der mit Cafeteria, Bücherei, Fitnessstudio, mehreren Cafes und Aufenthaltsräumen einiges zu bieten hat. Hier aß ich gemeinsam mit den anderen Studenten oder arbeite an Referaten. Unter den anderen Studenten habe ich schnell Freunde gefunden, die, dank des hohen Anteils an ausländischen Studenten am Bellevue College, aus vielen verschiedenen Ländern kommen.  So konnte ich neben der amerikanischen Kultur auch die meiner Freunde kennen lernen: Ich habe meine erste taiwanesische Teeparty besucht, spanische Paella gekocht und ausgelassen zu ungarischer Musik getanzt.

Der Mount Rainier – 4392 Meter hoch und der Hausberg von Seattle.

Selbst wenn wir alle glauben, das amerikanische Leben aus der modernen Popkultur zumindest ein wenig zu kennen, ist es ganz anders, als man es sich vorstell. Die größten Schwierigkeiten bereitete mir der amerikanische Umgangston. Egal ob auf der Straße, im Supermarkt, oder mitten auf einem Wanderweg: Überall sprechen dich wildfremde Menschen an. Meist mit einem lockerem „How you’re doing?“. Anfangs hat mich dieses nach deutschen Standards ungewöhnliche Verhalten sehr irritiert, vor allem als die Reaktion auf meine ausführlichen Antworten meist komische Blicke waren. Phrasen wie die eben erwähnte gehören schlichtweg zur amerikanischen Höflichkeit, die meisten Menschen erwarten jedoch keine richtige Antwort. Sie wollen keinen detaillierten Bericht über deinen bisherigen Tag hören und sind mit einem knappen „good, good, and you?“ vollkommen zufrieden. Eine weitere gefährliche Stolperfalle ist das Trinkgeld im Restaurant. Anders als in Deutschland sind Kellner in den USA absolut auf ihr Trinkgeld angewiesen, sodass alle „Tips“ unter 15% als Beleidigung empfunden werden.

Seattle als kulturelles Zentrum

Während meines Studiums verbrachte ich die Wochenenden meist in Seattle. Die Großstadt liegt auf der anderen Seite des Lake Washingtons und ist unter den Spitznamen „Emerald“ und „Rain City” bekannt: „Emerald“, weil die Stadt unheimlich viele Grünanlagen bietet, und „Rain“ weil sich jeder, der in Seattle überleben will, an regenreiche Tage gewöhnen muss. Einheimische gehen mit guten Vorbild voran und lassen sich meist von den schlimmsten Regengüssen nicht von ihren Tagesplänen abbringen. Diese Einstellung hat mir direkt gefallen und wann immer ich versucht bin, an regnerischen Tagen zu Hause zu bleiben, denke ich an die „Seattleites“ zurück und springe über meinen Schatten.

Seattle gilt nicht umsonst als kulturelles Zentrum des pazifischen Nordwesten: Es gibt die verschiedensten Museen und Kunstgalerien, die Studenten an ausgewählten Tagen umsonst besuchen dürfen, sowie viele Konzerte und Straßenfeste. Egal an welchem Tag und zur welcher Uhrzeit: In Seattle ist immer etwas los, und selbst beim endlosen Spazieren durch die Straßen ist mir nie langweilig geworden. Eine meiner liebsten Erinnerungen stammt vom 4. Juli, dem Tag der amerikanischen Unabhängigkeit, den ich mit einigen Freunden auf einer Dachterrasse mit Blick auf den Lake Union gefeiert habe. Jedes Jahr wird zur Feier des Tages ein Feuerwerk über dem Wasser gestartet, und dieses Spektakel mit anzusehen war ziemlich einzigartig. Der ganze See erstrahlte in allen möglichen Farben und die Feuerwerkskörper nahmen die ungewöhnlichsten Formen an. Wir beobachteten die Show von der Terrasse aus und feierten bis tief in die Nacht.

Neben der Space Needle und dem Gas Works Park, zwei berühmten Wahrzeichen der Stadt, werde ich Seattle für immer mit den Gerüchen nach Fisch und Marihuana in Verbindung bringen. Der Fischgeruch ist vor allem auf dem Pike Place Market und den Straßen in Wassernähe ständiger Begleiter, während der Geruch nach der in Seattle legalen Droge einem immer mal wieder aus verschiedenen Ecken entgegen dringt.

Seattle „The Emerald City“. Hier sieht man es nicht, aber ansonsten ist Seattle eine sehr grüne und parkreiche Stadt.

Selbstverständlich hat Seattle ein aktives Nachtleben, welches ich wegen meines Alter jedoch (noch) nicht kennen lernen durfte. Sowohl die Club-Kontrollen als auch die Überprüfung des Alters beim Kauf von Alkohol sind streng, und wenn man als ausländische Studentin sein Visum behalten möchte, ist es ratsam, sich an die Verbote zu halten. Natürlich wäre es gelogen zu behaupten, dass ich während meines ganzen Studiums nicht gefeiert habe: Es gab die ein oder andere Studentenparty, auf denen auch unter 21-Jährige Alkohol trinken durften. Diese fanden allerdings nie in der Öffentlichkeit statt, sondern privat im Haus von Freunden. Fun Fact: Die Altersbeschränkungen werden in den USA so genau genommen, dass auch 21-Jährige keinen Alkohol kaufen können, solange sie in Begleitung jüngerer Freunde sind, und mir wurde zweimal der Zutritt zu einem Bowlingcenter verwehrt, weil in diesem Alkohol verkauft wird.

Fast noch lieber als die Stadt Seattle an sich habe ich den großen Vulkan Mount Rainier gewonnen, der bei wolkenfreien Himmel hinter der Stadt emporragt. Auf mehreren Campingtrips bin ich dem Vulkan nahe gekommen und habe den nahe gelegenen Mount Rainier Nationalpark auf unzähligen Wanderwegen in der Region erkundet. Bestiegen habe ich ihn bis heute nicht – allerdings habe ich mir fest vorgenommen, es eines Tages zu versuchen. Bis dahin hängt er in Großaufnahme in meinem Zimmer und weckt regelmäßig meine Sehnsucht nach den Bergen, die von Münster aus leider nicht so schnell zu erreichen sind.  

Sich in Seattle zu verlieben ist nicht schwer. Die Stadt bietet Kunst und Kultur in Massen, alle typischen Shopping-Hotspots, die man von einer Großstadt erwarten kann, sowie den Zugang zu den Gebirgen des pazifischen Nordwesten. Außerdem ist sie ein guter Ausgangspunkt für Roadtrips, entweder in den Norden nach Kanada oder die Küste runter Richtung San Francisco und Los Angeles. Selbstverständlich habe ich beide Touren ausprobiert – inklusive Drive-Through-Essen, Schlafen im Auto und dem schwierigen Navigieren über die amerikanischen Highways. Dank solchen unvergesslichen Erlebnissen werde ich meine Zeit am Bellevue College nie vergessen. Seattle ist für mich zu einem zweiten Zuhause geworden, und ich komme noch immer regelmäßig für Besuche zurück. Wer weiß: Vielleicht werde ich sogar eines Tages wieder dort leben.

Auch gerade ist Lara wieder in Seattle unterwegs. Auf ihrer Instagram-Seite könnt ihr euch selber einen Überblick über ihre Reise machen.

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 435 mit dem Titelthema „Minimalismus“.

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