Veganes Curry, Selbstliebe und Intimrasur: Wer durch „veganpowergirls“ Youtube-Videos stöbert, scrollt durch die Social Media-Trends einer ganzen Generation. Weniger haben, besser influencen. Wie passen Minimalismus und Clickbait zusammen? Wo verläuft die Grenze zwischen Authentizität und Instagram-Filter?
Meine Begegnung mit dem Minimalismus beginnt im maximalen Chaos. Vor der Haustür des roten
Klinkerhäuschens am Rande von Münster stapeln sich braune Pappkartons. Bis oben hin gefüllt mit Klamotten, Büchern und Kochtöpfen. Schnaufend hievt eine blonde Frau eine Kommode an mir vorbei die Treppe hoch, streicht sich die Haare aus dem verschwitzten Gesicht, lächelt entschuldigend. Umzug halt, Sie wissen schon, der ganze Kram.
Ein Stockwerk über dem ganzen Kram ihrer neuen Nachbarin steht Nicole Froning im Türrahmen und lächelt mich an. „Normalerweise ist es hier ruhiger“, sagt sie und bittet mich rein. Man muss sich ein
bisschen ducken so schräg sind die Wände im Flur ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung. Während Nicol Tee aufgießt, sehe ich mich um. Alle Türen stehen offen, durch die großen Dachfenster fällt Licht auf – zugegeben, ziemlich wenig. Ein beiges Sofa, ein Holztisch, zwei Stühle. Die Wände sind weiß, über der Couch hat die 28-Jährige selbst gesammelte Äste aufgehangen. Auf der Fensterbank trocknen Kräuter in der blassen Mittagssonne. Nicols Wohnzimmer bietet mehr Frei- als Stauraum. Und obwohl ich mit
wenig gerechnet habe, habe ich nicht das Gefühl, dass hier viel fehlt. Sondern das ziemlich viel drin
ist, in diesem leeren Raum. Im Vergleich zu dem Umzugsgewusel ein Stockwerk tiefer ist das vor
allem Ruhe.
Von hundert auf null
„Früher war mein Zimmer bis oben hin vollgestopft. Ich hatte bestimmt hundert Kuscheltiere und die
Wände waren vollgekleistert mit diesen Medizini-Postern.“ Nicol grinst und stellt die Teetassen auf
den Tisch. „Wir können uns auch aufs Sofa setzen, aber dann müssen wir die Tassen auf den Boden
stellen.“ Einen Couchtisch besitzt sie nämlich nicht. Ob wenig zu haben, nicht auch bedeute auf viel
zu verzichten, will ich wissen und linse ein bisschen wehmütig rüber zum Sofa. Das sieht gemütlicher
aus, als die Stühle, auf denen wir uns jetzt gegenübersitzen. „Die obligatorische Frage“, verdreht
Nicol die Augen. „Nein, für mich bedeutet es nur, genau zu wissen, was ich brauche. Ich habe auch schon mal ganz ohne Möbel gelebt.“
Nicol wächst auf einem Bauernhof in der Nähe von Münster auf. Als Einzelkind bekommt sie, was sie sich wünscht und hat genug Geld, um sich zu kaufen, was gerade angesagt ist. Vor allem Klamotten.
Als sie mit zwanzig von zu Hause auszieht und eine Ausbildung zur Landwirtin beginnt, merkt sie, dass ihr Schrank zwar voll ist, aber nichts zusammenpasst. Sie beginnt sich radikal von den Sachen zu
trennen, die sie nicht braucht – und hört bis heute nicht damit auf. „Ganz lange wusste ich gar nicht, was das ist, Minimalismus. Ich hab‘ mich nie bewusst entschieden Minimalistin zu werden, das ist einfach das Ergebnis meiner Lebensführung“, sagt sie. Das Label nutzt sie trotzdem für ihre Videos. „Minimalisieren leicht gemacht“ heißen die oder „Minimalist löst Wohnung auf“. Auf dieses Video klicken fast 143.000 Menschen. Minimalismus, das weiß auch Nicol, boomt online.
Trotzdem sei es nie ihr Ziel gewesen, Geld mit YouTube zu machen „Ich wollte schöne Dinge mit
anderen teilen.“ Zu Beginn ging es dabei hauptsächlich um vegane Ernährung. 2012 eröffnet die
damals 22-Jährige einen eigenen veganen Laden in Düsseldorf. Die Ernährungstipps, die sie ihren
Kunden offline gibt, hält sie bald auch online in Videos auf ihrem Kanal fest.
Die Entrümpelung beginnt bei Nicol auf dem Teller
Zum Frühstück gedämpften Blumenkohl mit Haferflocken zum Mittagessen einen „super leckeren“
Burrito-Wrap aus Süßkartoffeln, Tomaten und Zwiebeln, fix runtergespült mit einem Tee aus selbst
gepflückten Kräutern. Nichts was mal geatmet hat, keine verarbeiteten Lebensmittel, kein Zucker,
kein Öl, kein Salz. Maximaler Verzicht. Auf YouTube kursieren Videos, die ihre Ernährungsweise offen
kritisieren. Für Nicol ist sie „naturnah und gesund“.
Sie weiß, dass sie mittlerweile ein Vorbild ist. Ihre Zuschauerzahlen steigen schnell an. Als Nicol nach
zwei Jahren ihren Laden verkauft, kann sie von YouTube leben. Das bedeutet aber auch: Der
minimale Lebensstil muss jetzt maximale Klicks erzielen. Der Konsumverzicht muss sich rechnen. Nur
minimal zu influencen funktioniert nicht. Nicol dreht in dieser Zeit zwei Videos pro Tag.
Veganpowergirl zeigt „what she eats in a day“, wägt die Vor- und Nachteile von Intimrasur ab und
gibt Life Updates. Mit Titeln wie „Warum ich keinen BH trage“ ködert sie, das sagt sie ganz offen,
Aufmerksamkeit. Für die ihren Videos vorangeschaltete Werbung bekommt Nicol anteilig einen
kleinen Betrag. „Mit Werbung Geld zu verdienen finde ich vollkommen in Ordnung“, sagt sie. Nur bei
den Anfragen für Produktkooperationen, von denen sie mehrere pro Tag erreichen, bleibt sie sich
treu: „Ich würde niemals ein Produkt bewerben, das ich nicht selbst kaufen würde.“ Und weil Nicol bekanntlich fast nichts mehr kauft, findet sich auf ihrem Kanal tatsächlich kein begeistertes
Unboxing-Video des neuen Matcha-Spirulina-Pulvers.
Ausgepowert
Irgendwann wird ihr trotzdem alles zu viel. Der Druck mit inspirierenden Videos Geld zu verdienen ist
größer als die Inspiration selbst. Das YouTube-Klick-Karussell dreht sich zu schnell für wirklichen
Minimalismus und nachhaltige Entschleunigung. Das Powergirl braucht eine Pause. Auf einmal sieht
Nicol ein bisschen verloren aus, wie sie da sitzt vor der kahlen Wand. „Mir war schon immer sehr
wichtig, was andere Menschen von mir denken“, erzählt sie und schaut aus dem Fenster. Ihre Hände
suchen immer wieder Halt an ihrem warmen Glas Tee, das vor ihr steht. Die weite Weiße ihres
Wohnzimmers scheint im grünen Wasser des Tees zusammenzufließen. Ein Fixpunkt in dem sonst so
leeren Raum.
Vielleicht ist Nicols Minimalismus nicht nur ein selbstbewusstes Aufbäumen gegen den Konsumwahn,
sondern auch eine Flucht vor dem Leben in einer Gesellschaft, die sich immer nur am „Müssen“ und
nie am „Dürfen“ orientiert. Der minimalistische Lebensstil als der letzte verbleibende
Überlebensinstinkt des homo oeconomicus. Wenig zu haben, befreie sie von Verpflichtungen und
Schuldgefühlen, sagt sie. „Ich fühle mich schlecht, wenn ein Buch neben mir auf dem Sofa liegt und
ich es nicht lese. Wenn ich in einer großen Wohnung lebe, dann will ich, dass sie sauber ist.“ Deshalb
besitze sie lieber kein Buch und keine Möbel, die abgestaubt werden müssen.
Gleichzeitig ist ihr Lebensstil aber auch eine Art Selbstermächtigungstrategie. „Mittlerweile ist es mir
egal, wenn andere Leute mich kritisieren. Dass ich doch nicht die ganze Zeit auf dem Boden sitzen
oder mein Essen nicht nur im Schnellkochtopf kochen kann, so was halt“, erklärt sie und lächelt.
Naturnah und mit wenig zu leben schaffe Weite in ihrem Kopf. Raum zu erkennen, wer sie wirklich ist
und was sie wirklich will.
Leerer Trend?
Ein bisschen verbraucht kommen mir solche Sätze trotzdem vor. Sie sind das Mantra einer
Generation von online- Influencer*innen, die, während sie vor der Kamera grüne Säfte schlürfen und
Entschleunigung predigen, noch schnell per Expressversand bestellen. Ob Minimalismus nicht auch
nur ein Trend ist, will ich von Nicol wissen. „Ja schon. Aber ein echter“, findet sie, „denn wenn du
minimalistisch leben willst, reicht es nicht, sich einfach nur ein paar Bananen und einen
Hochleistungsmixer zu kaufen, du musst dich mit dir auseinandersetzten. Das muss man Ernst
meinen.“
Und Nicol meint es ernst. Auf Instagram folgen ihr 14.600 Tausend Menschen, sie selbst aber folgt
nur zehn. Wenn sie etwas interessiert, dann will sie da selbst draufklicken und nicht, weil ihr eine
App das vorschlägt. Ihre Bilder bearbeitet sie nur wenig. Ihr Leben braucht keinen Instagram-Filter.
Wo denn eigentlich ihr ganzes Equipment sei um ihre Videos zu drehen, will ich zum Schluss wissen.
Nicol lacht. Sie zeigt auf ihr altes iPhone, das in der Ecke der Küche auf dem Boden liegt und lädt.
„Damit mach ich alles. Einen Computer oder eine Kamera besitze ich nicht – die brauche ich nicht.“
Diese Reportage erschien in der Ausgabe 435 des Semesterspiegels mit dem Titelthema „Minimalismus“.