Eine Wanne voll Wasser für alle

Während viele Studierende ihr Auslandssemester im europäischen Ausland verbringen, zieht es einige ans andere Ende der Welt – zum Beispiel nach Japan, über 9000 Kilometer entfernt von Zuhause. Trotz tropischen Wetters beeindruckt das Land der aufgehenden Sonne vor allem mit seiner Kultur, sogar wenn eine komplette Familie in demselben Wasser badet. Erfolglos bleibt jedoch die Suche nach Englischkenntnissen.

Es ist heiß und laut. Nur meine Tenniskappe schützt mich vor der Sonne, als ich bei 37 Grad und 83 Prozent Luftfeuchtigkeit mit dem Fahrrad ins Labor fahre. Obwohl ich gerade aus der Dusche komme, bin ich schon wieder komplett durchgeschwitzt. Die Ampel springt auf Grün und beginnt zu zwitschern. Gleichzeitig bewegt sich die riesige Menschenmenge in alle Richtungen über die Straße und während ich bergab rase, sorgen nicht die Fußgänger, sondern Zikaden für einen unbeschreiblichen Lärmpegel auf den sonst ruhigen Straßen. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, an Stellen zu schwitzen, an denen ich es früher nicht für möglich hielt und muss über die einstige Warnung eines Freundes schmunzeln: „Summer in Japan is hell!“ Trotz allem kann ich der Aussage nicht komplett zustimmen.

Der Traum Japan

Alles begann mit einem Comic-Magazin, das ich mir im Alter von 12 oder 13 Jahren gekauft und aufgeregt in meinem Zimmer durchgeblättert habe. Dabei stieß ich auf den Artikel „Japans Sitten und Bräuche“ und war sofort fasziniert von den ungewöhnlichen Kleidern, den Toilettenschuhen – die bloß nicht mit den Hausschuhen zu verwechseln sind –, davon, dass man seine Stäbchen anscheinend auf keinen Fall in der Reisschale stecken lassen sollte und vielem mehr. Ich recherchierte im Internet, übte mit Stäbchen zu essen und kritzelte Rudimente chinesischer Zeichen auf Papier. Es entwickelte sich der große Traum, dieses ferne Land auch mit eigenen Augen zu sehen, „echtes“ Sushi von einem japanischen Koch zu probieren und selbst mal einen Yukata (dt.: Badegewand) zu tragen. Als ich Jahre später erfuhr, dass mein Lehrstuhl eine Kooperation mit der Universität von Osaka, der drittgrößten Stadt Japans, führt, ergriff ich die Gelegenheit, meine Bachelorarbeit an der Partneruniversität zu schreiben. „Ein halbes Jahr in Japan – ein ganzer Sommer voller Träume, die wahr werden“, sage ich mir bei der Abreise. Erst als ich am Ende des 14-Stunden-Fluges den Sonnenaufgang durch das Flugzeugfenster sehe, realisiere ich, dass meine Reise im Land der aufgehenden Sonne beginnt.

Als wir im Bus Richtung Ibaraki sitzen, schaue ich aufgeregt aus dem Fenster. Es ist alles so, wie ich es gelesen habe: Die eckigen Autos, die Papierlaternen mit der Aufschrift „Matsuri (dt.: Fest) und natürlich die rosafarbenen Kirschblüten, mit denen alle Straßen in ganz Japan übersät sind. „Schau mal!“, rufe ich ganz aufgeregt zu meinem mitreisenden Kommilitonen, der meine Faszination für Japan zu dem Zeitpunkt allerdings noch nicht teilt und etwas erschöpft von dem langen Flug nur mäßig begeistert um sich sieht: „Jaaa …“

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Japan spüren

Meine Unterkunft ist eine ältere Tatami-Wohnung, die ich mit zwei weiteren Austauschstudentinnen teile, und liegt mitten in einem Wohnblock voller älterer Japaner. Die Wohnung ist so typisch, wie man sie sich nur vorstellen kann: Der Boden der Schlafzimmer besteht aus TatamiStrohmatten, es gibt nur Schiebetüren und -fenster. Außerdem ist die Badewanne klein, eckig und kann sprechen. Und auch wenn sich ein Futon statt Bett und ein acht Quadratmeter großes Zimmer zuerst abschreckend anhören mögen, lassen sie einen Japan – wie in der japanischen Redewendung – „mit den Knochen“ spüren und werden nach einigen Tagen nicht nur bequem, sondern sind später kaum noch aus dem Alltag wegzudenken. Nicht umsonst lautet ein altes Sprichwort: „okite hanjou, nete ichijou“ (dt.: „Man braucht nur eine halbe Tatami, um zu sitzen und eine, um zu schlafen.“).

„I don’t speak English“

Das Studium an der Universität Osaka ist überaus studierendenfreundlich und angenehm. Einzig die heutzutage leider immer noch holprigen Englischkenntnisse der Japaner können die Verständigung erschweren. Auch wenn diese bei Angehörigen der Universität deutlich besser sind als beispielsweise bei japanischen Senioren, kann es für einen Austauschstudierenden, der gänzlich auf die englische Sprache angewiesen ist, schwierig werden, sich selbstständig zurechtzufinden. Doch das ist auch nicht unbedingt notwendig. Durch die überaus freundliche Natur der Japaner wird einem auf Schritt und Tritt geholfen. Jede auch noch so kleine Schwierigkeit wird mit größter Sorgfalt angegangen. Doch auch wenn man sich auf die Hilfe der Mitmenschen verlassen kann, sollten Austauschstudierende im Idealfall grundlegende Japanischkenntnisse mitbringen. In dem Moment als ich zum ersten Mal meinen Betreuer kennenlerne, bin ich sehr froh, über eineinhalb Jahre den Japanisch-Sprachkurs im Optionalbereich besucht zu haben. Seine ersten Worte sind: „My name is Hara. I’m so sorry, I don’t speak English … yoroshiku onegaishimasu! (dt.: Ich hoffe auf eine gute Zusammenarbeit!).“ Allerdings versucht die Universität, der Sprachbarriere durch zahlreiche Einführungs- und Informationsveranstaltungen entgegenzuwirken. Es herrscht ein großes Bemühen, internationalen Studierenden einen guten Studieneinstieg und -verlauf zu gewährleisten. Hat man sich erst einmal zurecht gefunden, können alle Vorteile der Top-Universität wie modernste Laborausrüstung, unbegrenzter Zugang zu allen universitären Bibliotheken sowie eine ungeheuer riesige Auswahl an Clubaktivitäten genossen werden.

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Von Automaten und Sonnenschutz

Unterwegs zur Universität fallen mir auf den japanischen Straßen sofort einige Dinge auf: Es ist sehr sauber und das, obwohl fast nirgendwo Mülltonnen zu finden sind. Dafür gibt es zahlreiche Getränkeautomaten. Als wäre überall statt einer öffentlichen Mülltonne ein Automat platziert worden, ist es nicht möglich, hundert Meter zu gehen, ohne auf einen zu stoßen. Das kann bei der schwülen Hitze im Sommer jedoch ein wirklicher Segen sein. Eine weitere Sache, die sofort auffällt, ist der Fakt, dass Menschen auch bei bestem Wetter mit Schirmen auf die Straße gehen. Nicht aus Furcht vor Regen, sondern um die Haut vor der Sonne zu schützen. Und das ist nicht alles. Zur Sonnenschutz-Grundausrüstung einer japanischen Frau gehören der Sonnenschirm und die Hautcreme mit stärkstem Lichtschutzfaktor, eine andere gibt es in Japan kaum zu kaufen. Außerdem tragen viele auch schulterlange Handschuhe und eine Art Sonnenkappe mit getöntem Glas, die vor das Gesicht geklappt werden kann, sodass diese stark an eine Schweißmaske erinnert. Dieser Aufwand ist für Frauen in Japan ganz alltäglich, denn sie legen großen Wert darauf, ihre Haut vor der Sonneneinstrahlung, welche im Sommer sehr stark werden kann, zu schützen. Das geht oft so weit, dass am Strand Ganzkörpersonnenanzüge getragen werden oder ganz auf das Baden verzichtet wird. Während die Touristen sich also bei jeder Gelegenheit großzügig sonnen, verbringen die Japanerinnen ihre Freizeit lieber an einem schattigen Ort.

Auch die japanische Küche unterscheidet sich stark von unserer Heimat. Aufgrund der geografischen Lage ist diese übersät mit allem, was das Meer zu bieten hat: Fische, Algen, Meeresfrüchte und vieles mehr stehen auf den Speisekarten. Das Grundnahrungsmittel ist natürlich Reis. Durch die Zutaten und ihre schonende Zubereitung sind japanische Gerichte besonders vitaminreich und kalorienarm, sodass die japanische Küche den Titel der weltweit gesündesten Küche trägt und als Grundlage für die weltweit längste Lebenserwartung bei Japanern angesehen wird. Und das schmeckt man auch. Essen ist in Japan Kult und hat einen großen Stellenwert in der Kultur des Landes. So hat zum Beispiel jede Region Japans eine eigene Spezialität, die gerne als Mitbringsel bei gemeinsamen Treffen dient.

Täglich ein Bad

Die Freizeit verbringe ich mit meinen japanischen Kommilitonen oder meiner Gastfamilie, welche mir über die Universität vermittelt wurde. Zusammen gehen wir essen, machen Wanderungen oder Ausflüge zu einer Vielzahl an japanischen Tempeln oder Schreinen und anderen Sehenswürdigkeiten. Nach Abschluss meiner Bachelorarbeit wohne ich, nach überaus freundlicher Einladung den letzten Monat meines Aufenthaltes, sogar im Haus meiner Gastfamilie. Dort lerne ich von meiner Gastmutter japanisch zu kochen, mache weitere Reisen, schaue abends mit den Eltern und meinen Gastgeschwistern zusammen verrückte japanische Sendungen im Fernsehen und bade in demselben Badewasser wie alle anderen. Ja, wie alle anderen. Japaner nehmen täglich mindestens ein Bad. Vorher waschen und duschen sie sich jedoch sehr gründlich in einem vorgesehenen Duschbereich und steigen dann erst in die Wanne. Nicht nur, um Wasser zu sparen, sondern auch weil es auf diese Weise gänzlich überflüssig ist, wird zwischen den Familienmitgliedern das Badewasser nicht gewechselt. Das erregt keineswegs Ekel bei mir, sondern lässt mich als Teil dieser herzlichen Familie fühlen.

Jederzeit wieder

Am Ende des Semesters bin ich reich an so vielen neuen Erfahrungen und voller wunderschöner Erinnerungen. Ich habe das Land, von dem ich so lange schwärmte, hautnah erlebt und bin noch mehr in es verliebt, als ich es vorher war. Ich hoffe, ich werde noch oft die aufgehende Sonne Japans wiedersehen. Ach ja: Auch mein anfangs grimmiger Kommilitone hat das Land schlussendlich lieb gewonnen.

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