Während des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1944 stürzte auf der Krim ein deutsches Kampfflugzeug ab. Zwei Piloten waren an Bord, von denen einer den Absturz mit schweren Verletzungen überlebte. Tatarische Nomaden fanden ihn, versorgten seine Wunden mit tierischem Fett und hielten den Verletzten in Filz warm. Acht Tage, so der Mythos, pflegten die Tartaren den Überlebenden mit ihren Hausmitteln bis ein deutsches Suchkommando eintraf. Dieser deutsche Kampfpilot sollte in den 60er und 70er Jahren durch seine gesellschaftskritische (Aktions-)Kunst mit Fett und Filz berühmt werden und einige Werke dieses Künstlers, namentlich Joseph Heinrich Beuys, sind nun auch in Münster im LWL-Museum ausgestellt.
„Kunst ist nicht zum Verstehen da, sonst braucht es keine Kunst“
Beuys versucht die Intuition des Betrachters zu wecken. Nicht über den zweckrationalen Geist soll Erkenntnis gewonnen werden, sondern über das Erleben. Jeder bewusste Gedanke ist für Beuys bereits ein kreativer und schöpferischer Akt und entspricht damit seinem erweiterten Kunstbegriff: „Jeder Mensch ist ein Künstler.“ Auch wenn sich der Betrachter von seiner Intuition leiten lassen soll, ist ein gewisses Vorwissen für die Ausstellung sinnvoll: Für Beuys haben wärmespeichernde Materialien und organische sowie runde Formen wie Filz und Fett elementare, belebende Funktionen. Das Geometrische, Kalte, Metallene symbolisiert für ihn den Intellekt, welcher der Intuition den Platz raubt. Beuys attestiert der westlichen Gesellschaft, dass diese am Materialismus erkrankt sei. Seine Kunst soll dem entgegenwirken. Es ist seine Absicht, Intuition und Rationalität beziehungsweise Natur und Geist wieder zu vereinen. Beuys Kunst will den Menschen ändern.
Die Ausstellung „Hülle und Kern“ ist eine Sammlung von Multiples, also Zeichnungen Bilder, Fotos, oder auch Installationen, die vervielfältigt werden und somit ein größeres Publikum erreichen können. Bei ihnen handelt es sich um Readymades, also Alltagsgegenstände, die wie Kunst behandelt werden. Unter anderem arbeitete auch Andy Warhol mit Multiples. Beuys nutzt diese häufig und gerne, da sie seinem demokratischen Verständnis von Kunst entsprechen. Zudem sollen sie seine spätere Idee, die Gesellschaft (die soziale Skulptur) durch Kunst zu verändern, in größerem Maße verbreiten.
Hülle und Kern. Multiples von Joseph Beuys. Die Ausstellung läuft noch bis zum 29.09.2019 im LWL-Museum. Die Tickets kosten 8€ (für Studierende:_4€).
150 ausgestellte Multiples aus verschiedenen Schaffensperioden sind im historischen Lichthof des LWL-Museums in fünf Bereichen ausgestellt: Transformation, Wirtschaftswerte, Kommunizieren, Vermitteln und Demokratisieren. Die Ausstellung zeigt viele Readymades, unter anderem einen Schraubenzieher in einer Fettdose, einen Filzanzug oder einen geöffneten Koffer mit Maggi-Flasche und der Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant. Zudem sind Fotoreihen, Zeichnungen und Installationen zu sehen und zu hören. So ist unter anderem ein Lautsprecher installiert, der ununterbrochen die Wortfolge “Ja Ja Ja Ja Ja Nee Nee Nee Nee Nee” abspielt. Aber auch Werke aus seinem politischen und gesellschaftskritischen Engagement sind ausgestellt. Darunter ein Foto, wie Beuys mit breitem Grinsen durch eine Reihe Polizisten läuft, und auf welchem er handschriftlich notiert hat: „Demokratie ist lustig“. Ein anderes Multiple ist ein Dollarschein mit der Beschriftung: „Kunst = Kapitalismus“. Bei Beuys wird alles, was der Mensch tut, zur Kunst – auch der Kapitalismus, den er sehr kritisch betrachtet.
„Wenn Ihr alle meine Multiples habt, dann habt Ihr mich ganz“
Beuys trifft sicherlich nicht jeden Geschmack. Eine leere Holzkiste mit dem Titel Intuition zu betrachten, kann den einen begeistern und den anderen dazu bringen, das Eintrittsgeld zurückzufordern. Manche haben ihn als den größten Künstler des 20. Jahrhunderts betitelt, andere als Scharlatan. Wer neugierig geworden ist und sich darauf einlassen möchte, bekommt in der Ausstellung „Hülle und Kern. Multiples von Joseph Beuys“ viele Möglichkeiten, seiner Intuition zu folgen.
Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe des Semesterspiegels (#438). Weitere Inhalte findet ihr exklusiv nur im Heft (PDF).