Seit 2014 gibt es an den Hochschulen in NRW keine Anwesenheitspflicht mehr. Nach den Landtagswahlen im letzten Jahr gibt es nun eine neue Regierung in Düsseldorf. Die schwarz-gelbe Koalition unter Minister Armin Laschet (CDU) möchte nun das Hochschulgesetz lockern und den Hochschulen die Entscheidung für die erneute Einführung von Anwesenheits-pflichten selbst überlassen. Was spricht aber dafür, was spricht dagegen?
Ein Kommentar aus der Redaktion.
Pro: Vanessa Gregor, Master “Angewandte Sprachwissenschaften“
Ich habe in einem Bundesland meinen Bachelor gemacht, in dem es noch nie eine Anwesenheitspflicht gab. Damals habe ich noch Mitleid mit meinen ehemaligen Klassenkameraden gehabt, die es nach Bielefeld oder Münster zum Studium zog. Das war 2012 und die Anwesenheitspflicht noch da. Nachdem ich während meines Studiums aber mehr als einmal in einem eigentlich voll besetzten Seminar mit nur vier oder fünf Leuten saß, denke ich anders darüber. Natürlich kann ich nachvollziehen, dass man vielleicht lieber an den See geht oder auch mal arbeiten muss, obwohl eigentlich gerade eine Lehrveranstaltung stattfindet. Auch ich lasse mal das ein oder andere ausfallen. Dass es jedoch Kommilitonen oder Kommilitoninnen gibt, die sich sporadisch zwei, dreimal im Semester im Seminar zeigen und dann nur zu Klausur kommen, finde ich unfair. Unfair gegenüber den Dozierenden und den Leuten, die vielleicht wirklich gern in das Seminar gegangen wären, aber keinen Platz mehr bekommen haben. Und auch die Lehrenden bereiten sich vor, suchen Literatur und organisieren die Stunde. Um dann in zwei, drei interessierte Gesichter und sonst nur auf leere Stühle zu blicken?
Wir studieren doch nicht nur, um eine gewisse Anzahl von Punkten zu sammeln und dann im Prinzip nichts zu wissen, oder? Wir studieren, um etwas zu lernen. Und den Syntax der deutschen Sprache lernt man eigentlich eher schlecht zu Hause im Bett bei Netflix. Es mag ein Problem der geisteswissenschaftlichen Fächer sein, denn wer bei Medizin oder Chemie einmal aus dem Thema raus ist, kommt schwerer wieder rein als bei uns. Aber Studium ist Studium und wir haben uns alle dafür entschieden. Mit der Freiheit, mal nicht zu kommen, schließlich ist es keine Schule mehr, aber auch mit der Möglichkeit, etwas zu lernen. Aber manchmal müssen wir vielleicht verpflichtet sein, eben das zu tun, um auch den Dozierenden mit mehr als zehn Leuten in der Vorlesung zu lauschen.
Kontra: Carla Reemtsma, Bachelor Politik und Wirtschaft
„Wo bleibt denn die Freiheit der Studierenden?“ „Wir haben doch alle die Hochschulreife, wir dürfen doch nicht so bevormundet werden!“ „Und außerdem, die Studierenden mit Kind oder Job“ – Es gibt viele Argumente, die in der so oft geführten Debatte gegen die Anwesenheitspflicht angeführt werden. Den Kern der Sache treffen die meisten aber nicht (Arbeitszeiten können angepasst und Sonderregelungen für Studierende mit Kind entwickelt werden – und die Fragen nach Freiheit und Bevormundung müssten spätestens seit der Bologna-Reform an ganz anderer Stelle im Studium gestellt werden.) Das große Manko der Anwesenheitspflicht ist, dass sie nichts weiter kann, als was ihr Name verspricht: Studierende verpflichten, anwesend zu sein. Körperlich, nicht geistig. Es besteht keine Pflicht, Texte zu lesen, Übungsaufgaben zu machen, sich zu beteiligen oder wenigstens zuzuhören. Viele Befürworter führen aber eben solche Punkte als angebliche positive Effekte an. Dass das nicht funktioniert, kann man auch jetzt schon im Uni-Alltag beobachten: Ich nenne es mal „Anwesenheitspflichtgefühl“. Man muss die Veranstaltungen nicht besuchen, hat aber ein schlechtes Gewissen, wenn man es nicht tut. Je mehr Kommilitonen hingehen, desto stärker das schlechte Gewissen. Diejenigen, die nur wegen ihres schlechten Gewissens in der Vorlesung sitzen, sind selten mehr als körperlich anwesend: 90 Minuten betreute Facebook-Jodel-Instagram-Zeit, von der nicht mehr als ein quasi leeres Blatt mit der einsamen Überschrift „Vorlesung XY“ übrig bleibt. Eine Anwesenheitspflicht würde nur zu mehr dieser Vorlesungszombies und nicht zu mehr Bildung führen. Das kann aber keiner wollen. Wenn man schon einen der kostbaren Sitzplätze besetzt, sollte man auch zuhören und mitdenken – entweder, weil man sonst heillos durch durch die Semesterabschlussklausur rasselt (eine Erfahrung, die jeder Studierende mal machen und aus ihr lernen sollte) oder aber, weil es tatsächlich interessant ist. Dass es sowas geben kann, beweisen Seminare, bei denen donnerstagmorgens um 8 Uhr alle 25 Studierenden vorbereitet sitzen; einfach weil es spannend gestaltet und gut aufbereitet ist. Es ist vermutlich eine Utopie, dass alle Veranstaltungen so werden – die Grundprobleme von überfüllten, uninteressanten und unverständlichen Vorlesungen und von unmotivierten Studierenden verbessert eine Anwesenheitspflicht aber nicht.
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