Hunderttausende Demonstranten fordern wegen der Verordnung zu Korruption im Staatsdienst den Rücktritt der rumänischen Regierung. Trotzdem verzichtete das Parlament darauf, Ministerpräsident Sorin Grindeanu das Vertrauen zu entziehen. Lautstark ertönen die „hoți, hoți“-Rufe (dt.: Diebe) bei den Protesten. Aber was passiert gerade in Rumänien? Eine Studentin aus Münster, die in Sibiu (dt.: Hermannstadt) Freunde besucht, berichtet über die aktuelle Lage und ihre Erfahrungen.
Die Stimmung war unglaublich. Als hätte Rumänien die Fußballweltmeisterschaft gewonnen: schrilles Pfeifen, der laute Klang von Vuvuzelas, die Farben der rumänischen Flagge, die Flagge der EU und die rumänische Nationalhymne.
Seit knapp zwei Wochen gehen tausende Rumänen jeden Abend landesweit auf die Straße. Waren es zu Beginn noch 6000 Protestierende, die in Sibiu auf die Straße gingen, so stieg ihre Zahl innerhalb einer Woche auf 33.000 an. In der ersten Februarwoche versammelten sich täglich tausende Menschen in Bukarest auf der Piata Victoriei, am vergangenen Sonntag sogar schätzungsweise 300.000 Menschen und landesweit wird von über 500.000 Menschen ausgegangen, die gegen die amtierende sozialliberale Regierung von Ministerpräsident Sorin Grindeanu demonstrierten.
Worum geht es bei den Protesten?
Anfang Dezember fanden in Rumänien Parlamentswahlen statt. Bei der Wahl mit sehr geringer Wahlbeteiligung gewann die sozialdemokratische PSD die Wahl und formte mit der liberalen ALDE die Regierung. Innerhalb von eineinhalb Monaten setzte die neue Regierung viele Gesetze außer Kraft, die von der zuvor regierenden, technokratischen Regierung verabschiedet wurden. Insbesondere solche, die einen Schutz vor Korruption darstellen sollten. Die Proteste begannen nach einer geheimen Sitzung des Parlaments, in der in einer Eilverordnung unter anderem das Notstandsgesetz Nr. 13 sowie ein Gesetzesentwurf über Begnadigungen verabschiedet werden sollten.
Das sogenannte Notstandsgesetz Nr. 13 ist ein Gesetzentwurf, der es ermöglichen sollte, dass Korruptionsdelikte, die eine Summe von 200.000 lei (knapp 44.000 Euro) nicht überschreiten, straffrei bleiben. Dieses Gesetz sollte vordergründig dafür sorgen, dass die überlasteten Gefängnisse in Rumänien entlastet würden. In erster Linie würde dieses Gesetz jedoch dem PSD-Parteivorsitzendem Liviu Dreagnea und weiteren einflussreichen Politikern helfen, einer Anklage zu entgehen.
Etappensieg
Als sich am letzten Samstagabend (4. Februar) die Nachricht unter den Protestierenden verbreitet, dass die rumänische Regierung den Gesetzesentwurf zum Notstandsgesetz Nr. 13 zurückzieht, ist es ein Sieg des rumänischen Volkes gegenüber der Regierungspartei PSD – aber nur ein Etappensieg. Die Demonstranten fordern mehr. Sie wollen, dass die jetzige Regierung zurücktritt und dass auf lange Sicht ein Gesetz verabschiedet wird, das Politikern, die aufgrund von Korruption verurteilt wurden, verbietet, weiterhin in der Politik tätig zu sein. Die Regierung musste nun vorerst auf den Druck der Straße reagieren. Ministerpräsident Sorin Grindeanu sagte: „Wir haben die Stimme der Straße verstanden und wollen nicht, dass sich das Land spaltet.“ Nun soll das Gesetz auf dem normalen Weg im Parlament diskutiert werden. Einen Regierungsrücktritt wird es aber zunächst nicht geben: Ein Misstrauensvotum der Opposition gegen die Regierung scheiterte. Aufgrund der Mehrheit im Parlament ist Ministerpräsident Sorin Grindeanu nicht bereit zurückzutreten.
Nach diesem großen Aufgebot am vorherigen Sonntag schwächen die Proteste nun langsam ab. Jeden Tag auf die Straße zu gehen, kostet viel Energie und es ist beeindruckend mit wieviel Durchhaltevermögen und Kreativität die rumänische Bevölkerung ihren Protest aufrechterhält. Ihre Proteste werden begleitet von Trommeln, Bannern und Gesängen. Die Stimmung ist friedlich und meist optimistisch.
Die Zivilgesellschaft hält zusammen, in Bukarest gibt es einen Pizzaservice, der bei Angabe des richtigen Passworts Gratis-Pizza ausliefert, angrenzenden Cafés und Geschäfte geben kostenlos Kaffee und Tee an die Demonstranten aus.
In Sibiu legt die protestierende Menge jeden Abend eine Strecke von nahezu acht Kilometern zurück. Egal bei welchem Wetter. Auch Temperaturen von minus zehn Grad oder Regen können die Menschen nicht davon abhalten, jeden Abend vier Stunden lang auf die Straße zu gehen. Mein Gesicht ist noch nie so kalt gewesen. Aber wenn man friert, merkt man gar nicht mehr, wie man läuft und die Zeit vergeht. Auf ihren Plakaten tragen die Demonstranten anklagende, aber auch ironische Worte, die sie an ihre Regierung richten (zum Beispiel „Wenn es so weitergeht, schicke ich meine Schwiegermutter nach Bukarest“ oder „eine Qualle hat mehr Rückgrat“). Mein mentales, rumänisches Wörterbuch beinhaltet nun die seltsamsten rumänischen Worte, die ich während des Protestes lerne. Jeden Abend trifft man bekannte Gesichter. Es scheint, als würde der Protest die Menschen zusammenschweißen. Man freut sich, wenn man sich am nächsten Tag um 7 Uhr erneut auf der Piața Mare trifft.
Wie geht es weiter?
Mittlerweile ist Justizminister Florin Iordache zurückgetreten, der nach Ministerpräsident Sorin Grindeanu das Versagen der öffentlichen Kommunikation über das Notstandsgesetz zu verantworten hat. Ziel der Demonstranten ist es jedoch, dass die gesamte Regierung abtritt und dass die Lockerung des Antikorruptionsgesetzes verhindert wird. Noch ist der Ausgang der Proteste ungewiss. Es gibt kritische Stimmen, die anmerken, dass es immer noch nur ein Prozent der rumänischen Bevölkerung ist, die an den Protesten teilnimmt. Und wie lange können die Demonstranten ihre alltäglichen Aufgaben unterbrechen, um auf die Straßen zu gehen?
Für das kommende Wochenende gibt es erneut die Aufforderungen nach Bukarest zu kommen, es wird von einer Blockade des Regierungsgebäudes gesprochen. In Sibiu ist für Sonntagmittag, zusätzlich zum allabendlichen Protestmarsch, ein Leseprotest angekündigt. Jeder ist dazu aufgefordert, einen Stuhl mitzubringen und eine politische Lektüre, von George Orwell bis Kafka. Noch ist dem Einfallsreichtum und dem Willen zum Widerstand keine Grenzen gesetzt. Entscheidend wird sein, wer den längeren Atem hat, die Demonstranten oder die Regierung.
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Zur Autorin
Jana Tobschall hätte, als sie am 27. Januar ins Flugzeug stieg, nicht gedacht, dass aus ihrem Urlaub bei einer rumänischen Freundin in Sibiu eine politische Bildungsreise werden würde. Zwei Tage später ging sie mit ihren rumänischen Freunden auf den ersten Protestmarsch in Sibiu. Sie scherzten noch, dass die ganze Stadt gekommen sei, um mit ihr eine Tour durch die Stadt zu machen. Seitdem ist sie jeden Tag bei bis zu minus zehn Grad auf den Straßen von Sibiu, um zu protestieren. Sie wird noch bis kommenden Freitag an den Protesten in Sibiu und Bukarest teilnehmen.