Magie erscheint als Instrument, um das zu erreichen, was man ohne Arbeit wollte, das heißt eine Ablehnung der Arbeit in Aktion – so beschreibt es die Autorin Silivia Federici Magie und genau so war meine Vorstellung von Drogen. Keine Arbeit, keine Überwindung, keine Sorgen und trotzdem erfüllen sich meine Wünsche. Ganz von allein. In einer bis ins letzte Atom ernüchternden Welt gab es da doch noch etwas Magisches. Doch dieser Umgang mit Drogen hat nicht gut funktioniert.
Auf meiner Konfirmationsfahrt hatte ich meinen ersten Vollrausch. Zwei 13-Jährige, mein Zimmernachbar und ich, tranken eine Flasche Wodka durch einen Trichter. Die Idee mit dem Trichter hatten wir aus einem Film und sahen nicht ein, einen Unterschied zwischen Bier und Wodka zu machen. Es klingt immer sehr prahlerisch, aber: Ich habe keine Erinnerungen an diesen Abend. Am nächsten Morgen lag ich erschlagen in meinem eigenen Erbrochenen. Im ganzen Zimmer war großzügig unser Mageninhalt verteilt. Die Geschichte war mir zunächst hoch peinlich, aber nach und nach hatten mehr Mitschüler und Freunde Interesse an Alkohol und schnell tranken wir immer öfter. Und umso öfter erzählte ich von meiner Konfirmationsfahrt und dass ich keine Erinnerung an diesen Abend hatte. Zwei- bis dreimal die Woche fuhren wir zu einem Kiosk, der Minderjährigen Alkohol verkaufte und betranken uns auf Spiel- und Schulplätzen oder in der eigenen Wohnung, falls die Eltern ausgeflogen waren. Alkohol war normal geworden und garantierte Spaß. Irgendetwas passierte immer – das sah auch meine Mutter so. Ich wachte um 10 Uhr morgens in Ibbenbüren am Bahnhof ohne Hose auf, schlitze mir das Knie auf, brach mir einen halben Zahn ab, übergab mich während einer Klassenarbeit, setzte aus versehen ein Altpapierlager in Brand und verlor ständig Schlüssel, Portemonnaie und Fahrräder – das natürlich alles unter Alkoholeinfluss. Meine Mutter durfte ihren Sohn ohne Hose in Ibbenbüren abholen, mich auf dem Gepäckträger ins Krankenhaus fahren, ins Gericht begleiten oder das Haustürschloss erneuern. Ich fand das alles witzig und meine Freunde auch.
Das Bindemittel neu gefundener Freundschaften war Alkohol. Betrunken fühlte ich mich beliebt. Der Umgang mit anderen fiel mir plötzlich so leicht. Betrunken zu sein war absolut magisch für mich und Alkohol war mein Zaubertrank (tatsächlich nannte ich Alkohol eine Zeit lang so). Ohne Alkohol hätte ich wahrscheinlich nie einen Club betreten oder den Freundeskreis gehabt, den ich hatte. Einmal bat mich eine Freundin: „Komm schon, bitte betrink dich. Sonst bist du so langweilig.“
Schnell kam natürlich auch Cannabis dazu. Das machten schon sehr viele. Das erste Mal high zu sein, fühlte sich wunderbar an. Das wollte ich auf jeden Fall nochmal! Zu Beginn war es immer schwer, an Marihuana zu kommen. Die Dealer, die wir kannten, waren genauso halbstarke Jugendliche wie wir. Klassischerweise, um nicht von der Polizei erkannt zu werden, kaufte man am Handy und fragte: „Hast du zehn Minuten Zeit?“. Damit war Gras im Wert von zehn Euro gemeint. Bei einem Bekannten von mir musste ich in Äpfeln bestellen (1 Gramm = 1 Apfel) – er wurde dann später mit 2000 Äpfeln beziehungsweise 2kg Marihuana erwischt.
Das Kiffen tat mir auf Dauer nicht gut. Das merkte ich schnell. Trotzdem konsumierte ich immer mehr. Schleichend ist man an dem Punkt, an dem man fast täglich kifft. Ich hatte keine Lachanfälle mehr, verfing mich in kruden Denkschleifen und bekam nur noch Hunger und Herzrasen. Ähnliche Geschichten habe ich zuhauf gehört, aber so richtig aufhören wollte keiner und wenn es mal jemand für einen Monat durchgehalten hatte, bekam jene:r ein anerkennendes „Unnormal!“ zu hören.
Es gibt unglaublich viele Wörter und Praktiken in Bezug auf Cannabis. Allein für „Joint“ oder „kiffen“ sind unzählige Synonyme im Umlauf, die nochmals von Gruppe zu Gruppe variieren. Dazu wird der Konsum in Musiktexten und Filmen oft idealisiert. Kiffen war für mich identitätsstiftend.
Auf verschiedene Arten einen Joint zu drehen, darüber in einer bestimmten Sprache zu reden, Headshots zu verteilen, Preiskurse verschiedener Dealer zu besprechen, die Legalisierung von Gras zu fordern, einen Joint im Kreis gehen zu lassen machte Spaß – der Rausch war sehr schnell nicht mehr das Entscheidende. In meinem engeren Freundeskreis hörten wir viel Deutschrap. Unter anderem die 257ers, die Drogen ganz bewusst auf ironische Art glorifizieren.
Es war normal und geradezu cool, Drogen zu nehmen, nichts auf die Reihe zu bekommen – einfach nur abgefuckt zu sein. „Man kann auch Bier ohne Spaß haben!“ Natürlich war auch das mit einem Augenzwinkern gemeint, aber langsam verlor sich dieser ironische Zug. Eines Abends, nachdem wir einen Joint geraucht hatten, lief einer meiner Freunde gelb an und konnte sich nicht mehr bewegen, alle anderen verschwanden auf dem Balkon und übergaben sich. Wir fanden das witzig. Nach einer Party im „Favela“ tranken ich und ein Freund noch weiter mit ein paar Obdachlosen, die sich in den Osmo-Hallen behelfsmäßig ein Bettenlager zusammengebaut hatten. Ein andermal hatten wir kein Gras mehr und suchten aus dem Aschenbecher die letzten Krümel zusammen. Da wir nicht genug fanden, fragten wir ein paar Junkies auf dem Bremer Platz. In der Berufsschule war ich teilweise nicht mehr imstande Antworten zu formulieren, weil ich die Nacht durchgefeiert hatte. Zudem gab es Phasen, in denen ich mich ständig übergab. Wir machten eine Art Spiel daraus, indem man versuchte dabei zu rappen (das nannte sich „Überrap“). Und allmählich kannte ich die Stammkunden der Mocambo-Bar und sie mich.
Wir haben alle mit unseren Feier- und Drogengeschichten kokettiert und Saufen und Kiffen waren fast darauf ausgelegt, mehr Geschichten erzählen zu können. Gras vertrug ich nur noch gut in Kombination mit Alkohol, trotzdem konsumierte ich weiter – es musste irgendwann wieder einen guten Trip geben. Plötzlich bekam ich bekifft im Supermarkt eine Panikattacke und darauf folgten viele weitere Angstattacken. Der Spaß hörte ab diesem Zeitpunkt auf, auch wenn ich das nicht begreifen wollte. Ich rauchte kein Gras mehr, aber die Ängste blieben.
Gras war zwar raus, dafür probierte ich mit ein paar Freunden chemische Drogen. Ecstasy setzt plötzlich und sehr unerwartet ein. Bei mir knallte es jedes Mal und ich hatte das Gefühl, von innen zu explodieren. Gute Freunde von mir rollten sich filmreif in Ekstase Grashügel hinunter und umarmten Bäume. Mein Umkreis diskutierte viel über die chemischen Prozesse im Gehirn. Begriffe wie „GABA-Werte“ und „Oxytozin“ flogen durch die Luft. Das Risiko der Drogen wurde rational unter Zuhilfenahme von biochemischem Halbwissen heruntergebrochen und verharmlost. Ich bekam auf Ecstasy noch schlimmere Panikattacken.
Vor allem Cannabis und Alkohol waren Zentrum meines sozialen Umfelds. Nüchtern fühlte ich mich immer mehr fremd in diesen Gruppen. Da war schon lange nichts mehr magisch. Verkatert war ich ein Häufchen Elend. Ich hatte sicherlich ein paar meiner schönsten und verrücktesten Abende und Nächte unter Drogeneinfluss, aber auch die schrecklichsten Momente meines Lebens am Tag darauf. Es gibt viele Menschen, die deutlich mehr konsumiert haben als ich, ich habe meinen Konsum als leicht überdurchschnittlich empfunden. Alle um mich herum waren ähnlich, so mein Gefühl. Mein Umgang der letzten 13 Jahre wirkt im Lichte dieses Textes jedoch katastrophal. War das alles noch normal? Für mich fühlte es sich sehr lange so an und vielleicht zum Teil immer noch. So normal wie eine Orientierungswoche, die sich hauptsächlich an Alkohol orientiert, so normal wie der Joint, der auf der Hausparty herumgereicht wird, oder so normal wie das Oktoberfest im September.
Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe des Semesterspiegels (#440). Weitere Inhalte findet ihr exklusiv nur im Heft (PDF).