Brauchen wir einen „Digital Detox“?

Durchschnittlich 88 Mal blicken wir täglich auf das Smartphone… brauchen wir einen digitalen Detox?

Wir wachen auf und greifen neben das Bett, wo unser Handy über Nacht an der Steckdose angeschlossen war. Ein paar schnelle Klicks und der Bildschirm ist entsperrt; wir lesen die Nachrichten, die wir über Nacht verpasst haben, öffnen neue Snaps und scrollen durch Instagram. Wenn wir am Abend nach Hause kommen, entspannen wir mit unser Lieblingsserie auf Netflix, surfen auf Facebook und Twitter oder schauen Videos auf Youtube. Vor dem Schlafengehen überprüfen wir ein letztes Mal alle Kanäle. Kommt euch die Beschreibung bekannt vor? Dann wäre ein „Digital Detox“ wahrscheinlich genau das Richtige für euch.

Digitale Medien wie das Handy, das Internet und die verschiedenen Social-Media-Kanäle haben Einzug in unseren Alltag erhalten. Vor allem junge Menschen können sich kaum noch ein Leben ohne digitale Medien vorstellen. Wissenschaftler nennen die heutige Gesellschaft Mediengesellschaft und Psychologen studieren mögliche Konsequenzen der intensiven Mediennutzung oder diagnostizieren bei einigen Nutzern sogar eine sogenannte Mediensucht. Aber was bedeutet es eigentlich, mediensüchtig zu sein und welche Wege gibt es, seinen eigenen Medienkonsum zu kontrollieren?

Was bedeutet es, mediensüchtig zu sein?

Nach Dr. Wai Yen Tang, der Seminare zu Themen der Medienpsychologie an der Universität Münster gibt, ist es nicht leicht, Mediensucht zu definieren. Forscher orientieren sich bei ihren Definitionen oft an dem Vorhandensein gewisser Symptome, wie etwa dem ständigen Denken an gewisse Medien oder die Unfähigkeit, die Nutzung zu reduzieren. Eine andere gängige Methode versucht, die Sucht über den zeitlichen Umfang der täglichen Mediennutzung zu definieren. „Es ist sehr schwer, häufige Nutzung von einer akuten Abhängigkeit zu trennen,“ erklärt Dr. Wai Yen Tang.

Die DAK Gesundheit hat im September 2017 die Social-Media Nutzung von 12- bis 17-Jährigen in Deutschland in einer Studie erforscht und festgestellt, dass 2,6 Prozent, also etwa 100.000 deutsche Jugendliche social-media-süchtig sind. Eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung stellte sogar bei 5,8 Prozent der 12- bis 17-Jährigen und 2,8 Prozent der 18- bis 25-Jährigen eine „computerspiel- oder internetbezogene Störung“ fest. Gemessen wird Social-Media-Sucht in beiden Studien mit der in den Niederlanden entwickelten Social-Media Disorder Scale. Diese Skala besteht aus neun verschiedenen Aussagen zur Social-Media-Nutzung wie etwa: „Im letzten Jahr habe ich mich oft schlecht gefühlt, wenn ich Social-Media nicht nutzen konnte“. Wenn jemand fünf der Aussagen zustimmt, gilt er als süchtig.

Die Zahlen der Mediensüchtigen klingen zunächst harmlos, doch die gesellschaftliche Relevanz des Themas sollte nicht unterschätzt werden. Auch wenn die Kriterien für eine Sucht von den meisten Menschen momentan nicht erfüllt werden, bleibt die häufige, teils kaum unterbrochene Mediennutzung nicht konsequenzlos.

Andauernde Mediennutzung bleibt auch ohne Suchtsymptome nicht konsequenzenlos

Eine Reihe von Studien hat nachweisen können, dass die menschliche Konzentrationsspanne kontinuierlich sinkt. Große Popularität erhielt eine Studie von Microsoft Kanada, die herausfand, dass Menschen mit acht Sekunden eine geringere Konzentrationsspanne als Goldfische haben (neun Sekunden). Als Grund für die schrumpfende menschliche Aufmerksamkeitsspanne wird häufig unser Medienkonsum genannt. Das mag eine extreme These sein, die im Nachklang oft kritisiert wurde. Allerdings ist der Zusammenhang zwischen dem Medienkonsum und der Konzentrationsfähigkeit plausibel: In den digitalen Medien prasseln ständig Reize auf uns ein. Newsticker aktualisieren sich im Sekundentakt und jede Minute erreichen uns mehrere Nachrichten. Wenn man an eine solche Reizüberflutung gewöhnt ist, kann das Konzentrieren auf nur eine einzige Sache schwer fallen.

Die Omnipräsenz digitaler Medien beeinflusst auch unser Sozialleben. Beim gemeinsamen Essen mit Freunden schaut jeder auf sein Handy, unbeantwortete Nachrichten führen zu ernsthaften Konflikten und schöne Momente werden nicht mehr in Ruhe genossen, sondern per Instagram mit der ganzen Welt geteilt. Vor allem junge Leute haben immer stärker das Gefühl, ständig erreichbar sein zu müssen und fürchten, etwas Wichtiges zu verpassen, wenn sie in sozialen Netzwerken nicht regelmäßig aktiv sind. In Fachkreisen nennt man dieses Phänomen auch „Fear Of Missing Out“, oder kurz: FOMO. Diese Angst ist weit verbreitet und bewegt uns dazu, den Medien – und hier vor allem den sozialen Netzwerken – einen Großteil unsere Zeit zu schenken, die wir eigentlich anders nutzen sollten.

Doch wie können wir die negativen Folgen der Mediennutzung vermeiden und bewusster mit ihnen umgehen? Da viele Menschen Probleme mit ihrem Medienkonsum haben, gibt es inzwischen glücklicherweise viele Unterstützungshilfen, die eine kontrollierte Nutzung erleichtern. Für das Handy gibt es bestimmte Apps, welche die tägliche Handynutzung aufzeichnen und Statistiken erstellen, an denen abgelesen werden kann, wie viel Zeit am Handy verbracht und welche Apps am häufigsten genutzt wurden. Nutzer haben so die Möglichkeit, ihre Gewohnheiten zu analysieren und zu verändern. Beliebt ist auch die App „Forest“, in der Nutzer das Wachstums eines virtuellen Baumes unterstützen wenn sie wenig Zeit am Handy verbringen. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, das komplette Handy in den Schwarzweiß-Modus zu versetzen. Da knallige Farben uns reizen, neigen wir dazu, Apps seltener zu öffnen, wenn deren Logos in Grautönen erscheinen.

Wer am Computer oder Laptop konzentriert arbeiten möchte und sich selbst vom sinnlosen Surfen abhalten möchte, kann eine Router Blacklist erstellen. In diese Blacklist können „gefährliche“ Internetseiten wie Facebook oder die liebste Online-Shopping-Seite eintragen werden, welche der Browser anschließend nicht mehr öffnet. Ursprünglich war die Funktion dazu gedacht, Kinder und Jugendliche vor ungeeigneten Inhalten zu schützen. Allerdings ist sie auch sehr hilfreich für alle, die den Ablenkungen des Internets von alleine nicht widerstehen können.

„Ich möchte keine Abhängigkeitsbeziehung zu meinem Handy haben“

Als ultima ratio bietet sich der vollständige Verzicht auf Medien für einen oder mehrere Tage an. Marie (21) hat es geschafft, drei Tage auf ihr Handy zu verzichten und nutzt dieses nach eigener Aussage nun viel bewusster: „Die drei Tage waren hart, haben mir aber gezeigt, dass ich etwas ändern muss. Ich möchte keine Abhängigkeitsbeziehung zu meinem Handy haben, sondern mich auch mal länger mit anderen Dingen beschäftigen können, ohne ständig abgelenkt zu werden.“ Sie hat sich fest vorgenommen, ihren Umgang mit dem Handy gut im Auge zu behalten und einen neuen Detox zu beginnen, wenn sie das Gefühl hat, erneut die Kontrolle zu verlieren.

Dieser Text erschien in der Ausgabe Nummer 435 des Semesterspiegels mit dem Titel „Minimalismus“. 

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