Die ungeheilte Frau

Caroline Schmitts Debütroman Liebewesen zeigt Aufarbeitung als das, was sie ist – schön, schwierig, hoffnungsvoll und vor allem nicht-linear

Selbstbewusste weibliche Sexualität ist überall. Frauen, die wissen, was sie wollen, die sich nehmen, was sie brauchen, die sagen, was sie erwarten, die ihren Körper lieben, wie er ist. Wie sollte es auch anders sein? In jeder mittelgroßen Buchhandlung liegen Ratgeber mit zu vielen Ausrufezeichen im Titel, vermarktet in ironisch weiblichen Pink- und Lilatönen auf Grabbeltischen, die genau erklären, wie ‚das‘ geht – als könnte erst dann das Leben beginnen, als wäre alles vorher eine Lüge, ein nebliges Missverständnis. 

Lio lebt in diesem Missverständnis. Sie hasst ihren Körper, sie hasst Sex. Sie hat den gewalttätigen Missbrauch ihrer Mutter nie verarbeitet, auch das Wegschauen des Vaters nicht. Erinnerungen an eine Vergewaltigung auf einem Dorffest als Schülerin umklammern sie immer noch bis zur Atemlosigkeit. Für Lio kann Sex nicht schön sein, nur mehr oder weniger schlimm. Selbstbewusste Freundinnen, die online Sextoys kaufen und über ausgelassene One-Night-Stands reden, verstören sie. Dann kommt Max – und es wird natürlich nicht alles anders. 

Caroline Schmitt gelingt mit ihrem Anfang des Jahres erschienenen Debütroman Liebewesen eine neue Perspektive auf ein großes Thema: Sie skizziert, dass das Leben nicht nach der Heilung aller Wunden beginnt, sondern immer schon passiert, und mit ihm kleine Schritte vor und zurück. Sie räumt auf mit dem Mythos des völlig genesenen Nullpunktes, als wäre eine Aufarbeitung der Vergangenheit vergleichbar mit einem Knochenbruch. Lio tut, was sie tut – sie studiert als Erste ihrer Familie, sie ist einsam und findet gute Freunde, sie hasst Sex und lernt ihn lieben, sie ist glücklich und manchmal auch nicht, sie erinnert sich an die Gewalt ihrer Mutter und starrt auf einmal auf einen positiven Schwangerschaftstest. Sie lebt, während sie verarbeitet und andersherum. 

Daneben ist Liebewesen ein Klassenroman, nie aufdringlich, sondern zwischen den Zeilen und fast, als wäre er selbst überrascht darüber. Lio ist talentiert, ehrgeizig und fleißig. Sie empfindet das Privileg, studieren zu dürfen, als kaum auszuhaltendes Glück. Schmitt malt als Konterpart Max‘ charmant-schnoddrigen Habitus eines Sohns intellektueller, wohlsituierter Eltern, der erwartet, dass ihm Gutes zufällt und er teures Essen verdient, gekonnt und differenziert. Die Sorgen des Anderen können bei diesem Aufeinanderprallen verschiedener sozialer Milieus nicht verstanden werden, beide bleiben isoliert in ihrer Erfahrung und sprachlos in ihren Sorgen. Max kann zahlen, aber nicht trösten, Lio kann erklären, aber eben nicht alles und vor allem nicht das Entscheidende.   

Das langsame Sterben der Gefühle zwischen Lio und Max tut beim Lesen weh und klingt nach. Die wichtige, realistische, neue Darstellung von einem Nicht-geheilt-sein aber Immer-besser-umgehen-können gibt allerdings Hoffnung. Nicht die Art von Hoffnung mit falschen Versprechungen, die auf den lila Büchern beschrieben wird, sondern die, die das Fortdauern von Leid anerkennt und gleichzeitig sagt: Es gibt auch Gutes. Auf der letzten Seite lässt Schmitt Lio sagen: „Mein Körper, Schlachtfeld, Zielscheibe, manchmal Subjekt, oft Objekt und immer öfter Komplize“. 

Lesenswert für jede:n, der in diesem langen Sommer Kapazität für ein bisschen wichtige Schwere hat.  Liebewesen von Caroline Schmitt, 2023, 218 S., Eichborn Verlag

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