Eine Einordnung
Für ein paar Tage waren „politische Unruhen in Peru“ Thema in den deutschen Medien. Fotos von Zusammenstößen zwischen Polizist:innen und Demonstrierenden unter schwenkenden rot-weißen Nationalflaggen kursieren im Netz, zuletzt wurde über Todesfälle bei Protesten berichtet. Im Dezember wurden regionale Notstände der peruanischen Regierung verhängt, die die verfassungsrechtlichen Grundrechte einschränken und den Sicherheitskräften Sonderbefugnisse zur Wiederherstellung der Ordnung einräumen. Das Auswärtige Amt rät von Reisen ins Land ab. Was ist passiert?
Der 7. Dezember 2022 wird als historischer Tag in die neue peruanische Geschichte eingehen. Wenige Stunden vor der Abstimmung über ein 3. Amtsenthebungsverfahren gegen ihn, verkündete Präsident Pedro Castillo unter anderem die vorübergehende Auflösung des peruanischen Kongress und die Einberufung einer neuen verfassunggebenden Versammlung, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung sowie eine landesweite Ausgangssperre, die mithilfe des Militärs durchgesetzt werden sollte. Am selben Tag noch, zu peruanischer Uhrzeit Mittag, in Deutschland bereits Nacht, wurde Castillo durch den peruanischen Kongress abgesetzt und befindet sich nun für 18 Monate wegen Vorwurf der Rebellion in Untersuchungshaft. Am Nachmittag wurde Dina Boluarte vereidigt, ehemalige Vizepräsidentin und erste Frau in ihrem Amt.
Castillo, ein ehemaliger Grundschullehrer aus der Bergbauregion Cajamarca, hatte 2021 überraschend die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Er galt als Kandidat des Anti-Establishments und erhielt besonders viel Zuspruch in Süd-Peru und ländlichen Regionen. Zuletzt hatte es aber viel Kritik an dem ehemaligen Präsidenten gegeben, unter anderem wegen Korruption, krimineller Vereinigung und Bestechlichkeit. Zudem galt seine Regierung als höchst instabil: Innerhalb von knapp eineinhalb Jahren wechselte Castillo über 80 Minister seines Kabinetts aus.
Eine Kollision zwischen politischen Kräften passiert in Peru nicht zum ersten Mal. Seit der Jahrtausendwende hat es zehn Präsidenten gegeben, die wegen Korruption verhaftet oder inhaftiert sind oder Suizid begangen haben. Zwei der zehn Präsidenten wurden durch den Kongress des Amtes enthoben, den letzten Staatsstreich hat es aber unter anderen Umständen gegeben. 1992 löste der damalige Präsident Alberto Fujimori den peruanischen Kongress auf, anders als der ehemalige Präsident Castillo wurde er aber vom Militär unterstützt. Es folgte eine Zeit, in der Peru durch den „Fujimorismo“ einen neoliberalen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte, zeitgleich aber von steigender Armut und sozialen Ungleichheit sowie politischer Repression geprägt war. Fujimoris Tochter Keiko ist auch politisch aktiv und in den letzten Wahlen in 2021 zum dritten Mal als Präsidentschaftskandidatin angetreten. Ihre Partei gehört zu den rechten Kräften, die seit mehreren Jahren den peruanischen Kongress dominieren. Da in Peru der Kongress und der:die Präsident:in separat gewählt werden, ist die Gewaltenteilung konfliktträchtig. Der Kongress ist mit aktuell 11 Fraktionen stark zersplittert. Gewinnt ein Präsidentschaftskandidat ohne Parteirückhalt im Parlament, sind politische Konfrontationen vorprogrammiert.
Flor*, eine peruanische Studentin aus Münster, hat aufgrund der Zeitverschiebung am Abend in Deutschland über Twitter von allem erfahren. „Ich bin in Lima aufgewachsen […] und die meisten meiner Freunde und Familie wohnen auch dort. Ich war sehr besorgt über diesen Putschversuch und auch über die Folgen.“ Sie sieht den Zentralismus und das Machtvakuum in der Hauptstadt als eine Wurzel des Problems: „In Lima gibt es mehr Chancen. Es ist wahnsinnig ungerecht, denn es gibt Regionen, die abgeschnitten sind, was sich vorallem in der Pandemie gezeigt hat. Es ist seit Jahren ein Konflikt und es gibt keine Veränderung darin seitens der Regierungen, die vor allem korrupt sind.“ Außerdem seien die bestehenden Klassenstrukturen ein Grund für die aktuelle Situation: „Seit der Absetzung Castillos gibt es Leute aus bestimmten sozialen Schichten, die sich im Recht fühlen, rassistische Kommentare zu machen. Und ich verstehe, dass sich die Anhänger Castillos von der Politik verraten fühlen.“
Die Anhänger Castillos fordern den Rücktritt Boluartes und Neuwahlen, welche auf 2024 vorgezogen wurden. Wie die Wahlen ausgehen werden, bleibt abzuwarten. Anders als in Deutschland zum Beispiel sind politische Parteien wenig konsolidiert. Flor will ihr Stimmrecht auf jeden Fall wahrnehmen: „Bei den Präsidentschaftswahlen kann ich von hier wählen. Aber bis jetzt gibt es noch keine Wahloption, die mich überzeugt.“
Autorin: Emily Kaffka