Alternative Stadtführung Münster

Text von Justus Wilke und Marie-Sofia Trautmann, Layout von Jan Erik Brühl

Für den Sommer haben sich schon der alte Schulfreund oder die große Schwester für einen Münster-Besuch angemeldet? Super! Wir haben nämlich die besten Tipps für die perfekte Stadtführung. Diese Anekdoten könnt ihr euch leicht merken, sodass ihr mit eurem Wissen vor Familie und Freund:innen prahlen könnt.

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Paul Wulff – die Litfaßsäule mit Kopf

Auf dem Servatiiplatz steht seit 2010 Paul Wulff. Die etwa dreieinhalb Meter große Skulptur umgibt ein Mantel von Zeitungen, weshalb sie wie eine Litfaßsäule mit Kopf aussieht. Paul Wulff war ein Opfer nationalsozialistischer „Rassenhygiene“. 1938 wurde Wulff zwangssterilisiert, da bei ihm „angeborener Schwachsinn ersten Grades“ diagnostiziert worden war. Noch während der Hitler-Diktatur war Wulff Teil des Widerstands und widmete sich nach dem Krieg der Aufarbeitung der NS-Verbrechen. In Münsteraner Archiven und Bibliotheken suchte er bis zu seinem Tod nach Dokumenten, die er für seine antifaschistischen Ausstellungen nutzen konnte.

2007 schuf die Künstlerin Silke Wagner im Rahmen der Skulptur Projekte die Paul-Wulff-Figur. Nach der Kunstausstellung wurde die Statue abmontiert, wogegen viele Münsteraner:innen protestierten. Sie sammelten ausreichend Geld, sodass Paul Wulff heute am Servatiiplatz als Mahnung und Erinnerung zugleich stehen kann.

Foto: Justus Wilke

Am Prinzipalmarkt über den Jordan gehen

Wetten, dass ihr über dieses Kunstobjekt schon einmal gelaufen oder gefahren seid, ohne es zu merken? Mitten auf dem Prinzipalmarkt hat ein Gievenbecker Künstler im Jahr 2000 eine Kapsel in das Kopfsteinpflaster eingelassen. Darin plätschert zur Hälfte Wasser aus einem Brunnen, der unter dem Prinzipalmarkt liegt, und zum anderen Wasser aus dem Jordan. Der Künstler erinnert damit an die Wiedertäufer, die 1534 die Münsteraner Bevölkerung zur Zwangstaufe verdonnerten. Das Wasser kam aus ebendiesem unterirdischen Brunnen. Die Münsteraner*innen mussten sich für die Taufe in Listen eintragen, die in Häusern auf der Höhe des heutigen Denkmals am Prinzipalmarkt auslagen. Wer sich weigerte, musste die Stadt verlassen. Das Jordanwasser steht hingegen symbolisch für die Taufe Jesu, die sich am Ufer des Flusses ereignete. Somit seid ihr mit Sicherheit schon öfter „über den Jordan gegangen“, als ihr gedacht hättet.

Fotos: Justus Wilke

Pinkus Müller

Die Familie Müller, urmünsteranisch und alteingesessen, besitzt seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts eine Altbierbrauerei und eine Bäckerei, in der auch Schokolade hergestellt wird. Der musikalische Nachwuchs Carl Müller (1899-1979) macht als Jugendlicher das, was wohl viele von uns schon gemacht haben: Er trifft sich mit seinen Freunden auf einen Abend voller Altbier und halbwüchsigem Leichtsinn. Auf der Promenade erlaubt die Blase der jungen Männer keinen Aufschub mehr und es wird, wie aus so vielen Situationen zwischen heranwachsenden Jugendlichen, ein Wettkampf beschlossen: Wer es schafft, von der Mauer auf der einen Seite der Promenade die Gaslaterne auf der gegenüberliegenden auszupinkeln, gewinnt. Carl entscheidet das Spiel für sich und trägt von nun an den liebevollen Namen Pinkulus, später Pinkus. Der Name wird ihn später sogar in seinem Personalausweis ausweisen.

Pinkus Müller ist bis zu seinem Tod in den siebziger Jahren eine prägende Person für Münster, spendet in den Nachkriegsjahren Geld für den Wiederaufbau und vergisst nie, was er neben seiner Brauereitätigkeit am liebsten tut: Für seine Gäste in der Kneipe ein Ständchen singen.

Foto: Marie-Sofia Trautmann

Cavete

Die Geschichte der Cavete beginnt 1958 mit dem Studenten Wilfried Weustenfeld. In Münster gab es natürlich schon die Universität und mit ihr viele Studierende, was aber fehlte waren Angebote für typisches Studentenleben: Nicht einmal eine Studentenkneipe gab es, in der man abends seiner Jugend hätte frönen können. Wilfried legt in genau diese Wunde seinen Finger und veröffentlicht einen erbosten Artikel über das sterbenslangweilige Münster. Wo? Genau, im Semesterspiegel, den gab es damals nämlich auch schon. Die Warnung: „Cavete Münster“, was soviel heißt wie „Hütet euch vor Münster“. Die Stadt reagiert erbost, beleidigt, verständnislos – ein Münsteraner allerdings nicht, nämlich der damalige Rektor der WWU, Professor Klemm. Der gibt einigen Studenten Geld, damit sie in anderen Städten Studentenkneipen ausprobieren können und hilft ihnen danach mit dem verständlichen Wunsch, das es etwas ähnliches auch in Münster geben solle. Was jetzt beginnt, ist so etwas wie ein modernes Märchen: Die gastronomisch völlig unerfahrenen jungen Männer stapfen mit einem Empfehlungsschreiben von ihm in die Germania-Brauerei, die ihnen eine kaputte, alte Kutscherkneipe in der Kreuzschanze überlässt. Und trotz aller anfänglichen Empörung legt jetzt die ganze Stadt los: Münsteraner:innen bringen alte Möbel, putzen, renovieren, ja sogar die Häftlinge des Gefängnisses helfen mit. Bereits im nächsten Jahr wird die Cavete eröffnet und ist von Anfang an ein voller Erfolg: Von Jazzmusik über westfälische Häppchen und politische Diskussionen unter Alkoholeinfluss bietet sie alles, was eine Studentenkneipe braucht. Zu Anfang lief es wirtschaftlich eher mittelmäßig, es wurde viel Bier über den Thesen herausgegeben und recht wenig abgerechnet – mit der Zeit und Erfahrung pendelte sich aber auch das ein.

Übrigens: Der Hund über der Cavete ist inspiriert von Ludwig Erhard, der die Intellektuellen eines Landes „Pinscher“ nannte. Außerdem lässt sich der Artikel von Wilfried bis heute in der Speisekarte der Cavete nachlesen. Bei eurem nächsten Besuch stoßt ihr also hoffentlich auf diesen famosen Studenten an und auf all die Abende, die wir ihm zu verdanken haben.

Foto: Marie-Sofia Trautmann

Goethe und Schiller in Münster

Jaja, die drei Körbe an der Lambertikirche kennt jede:r. Aber habt ihr auch schon Goethe und Schiller am Eingang zum Westportal entdeckt? Dort sind unter anderem die vier Evangelisten der Bibel in Stein gemeißelt. Zwei von ihnen fallen allerdings aus der Reihe: Anstatt von Johannes ist das Gesicht Friedrich Schillers zu sehen und Lukas musste dem nachdenklichen Goethe weichen. Der Pfarrer der Lambertikirche, Hermann Kappen, hatte Ende des 20. Jahrhunderts diesen außergewöhnlichen Einfall. Ob er einfach nur ein Fan war oder ob er ein ganz anderes Motiv hatte, weiß heute wohl kaum jemand. Und trotzdem ist es immer ein gelungener Fun Fact bei einem Spaziergang durch die Innenstadt.

Foto: Justus Wilke

Dem Nikolaus eine Abreibung verpassen

Gegenüber vom Kiepenkerl steht an der Bogenstraße eine Bischofsfigur, die kaum einen Meter groß ist. Sie stellt den heiligen Nikolaus dar, der in seiner Hand drei Kugeln hält. An dieser Stelle stand früher das Nikolaitor, das im Mittelalter den Kirchenbezirk mit der übrigen Stadt verband. Stadtführer:innen erzählen gern eine Anekdote, die bei Tourist:innen immer gut ankommt: Wenn man an der spitzen Nase des Nikolaus reibt, wird einem Gesundheit versprochen.

Wenn man aber an den drei Kugeln reibt, erhalte man demnach Reichtum. Allerdings darf man sich nur für eines von beidem entscheiden! Im Vergleich zum Rest der Statue glänzen Nase und Kugeln golden – so oft werden sie von Touristenhänden poliert. Ob sich nun mehr Menschen für Gesundheit oder für Reichtum entscheiden, davon müsst ihr euch selbst ein Bild machen.

Foto: Justus Wilke

Büste von Annette von Droste-Hülshoff

Bestimmt ist der Name dieser Frau schon einmal durch euer Leben gewabert, vielleicht im Deutsch-LK, vielleicht, als ihr euch aus Versehen in die Biographie-Abteilung von Thalia verirrt habt. Ein wenig Hintergrundwissen über sie kommt auf keinen Fall schlecht an, vor allem nicht, wenn euer nächstes Tinder-Date Germanistik studiert und/oder feministisch eingestellt ist. Annette wird 1797 auf Burg Hülshoff geboren (ein weiteres geniales Ausflugsziel in der Nähe von Münster, problemlos mit dem Fahrrad erreichbar und sehr beeindruckend) und wächst privilegiert auf – trotzdem ist es ihr ausschließlich aufgrund ihres Geschlechts nicht möglich, so frei und selbstständig ihre Literatur zu publizieren wie es einem Mann zugestanden hätte. Ihr erstes Werk veröffentlicht sie aus Rücksicht auf ihre Familie halb anonym und muss Zeit ihres Lebens mit Spott und Häme selbst aus ihrem intimsten Umfeld umgehen. Dass sie auch eine herausragend begabte Komponistin und Sängerin war, wurde lange Zeit vergessen und wird selbst heute wenig beachtet. Ein Leben lang war es ihr unmöglich, ihren Lebensweg emanzipiert zu gestalten; ihre streng katholische Mutter, von der sich Annette oftmals unverstanden und nicht ernst genommen gefühlt hat, bleibt bis zu ihrem Tod ihr Vormund, weil Annette nie heiratet. Das Liebesleben der Schriftstellerin ist außerdem besonders tragisch (ein Gast meiner Stadtführung reagierte darauf mit den Worten „Das ging uns doch allen so“, woraufhin er einen empörten Blick seiner Ehefrau erntete) – Wer sich dafür tiefergehend interessiert, dem sei der Roman „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ ans Herz gelegt.

Diese Frau, so weiß man heute, ist eine der bedeutendsten, gebildetsten und talentiertesten Dichterinnen des Münsterlandes und des Bodensees und musste trotzdem Zeit ihres Lebens mit Demütigung, Unverständnis und Zurückweisung umgehen – und das nur, weil sie nicht als Mann zur Welt gekommen ist.

Foto: Marie-Sofia Trautmann

Blinden-Stadtmodelle für jeden

Ja, Münster ist eine lebenswerte Stadt. 2004 wurde sie sogar zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt. Alles schön und gut, aber ist sie auch für jeden im gleichen Maße lebenswert? Das fragten sich einige Stadtplaner:innen. Daraufhin entstand ein Konzept, um Münster wirklich für jede:n, also zum Beispiel auch für Gehbehinderte oder Blinde lebenswert zu gestalten. Seitdem gibt es viele Projekte in der Innenstadt, die nur wenigen auffallen, nämlich denen, die darauf angewiesen sind. Zum Beispiel gibt es auf dem Prinzipalmarkt abgesenkte Bordsteine und glatte Übergänge, damit Rollstuhlfahrer:innen nicht auf dem Kopfsteinpflaster fahren müssen. Dazu kamen Blinden-Stadtmodelle, die man ertasten kann. Die Modelle helfen blinden Menschen, sich in der Stadt zu orientieren und informieren gleichzeitig über die Stadtgeschichte. Zum Beispiel könnt ihr euch an der Überwasserkirche ein Bild von der zerstörte Innenstadt nach dem Zweiten Weltkrieg machen. Diese haptischen Stadtpläne sind auf jeden Fall für alle interessant!

Fotos: Justus Wilke

Münsters Bischof gegen die Nazis

Getarnt unter den Linden, am Rande des Domplatzes, ist auch diese Sehenswürdigkeit eher unbekannt. Die Statue zeigt Kardinal von Galen, der in der NS-Zeit einer der wenigen Vertreter der katholischen Kirche gewesen ist, die das Hitler-Regime öffentlich kritisierten. Besonders bekannt sind drei seiner Predigten, die er 1941 als Bischof in Münster hielt. Von Galen erreichte mit den Reden den Stopp der Aktion T4. Das war die systematische Ermordung von Menschen mit Behinderung, die die Nazis in der Tiergartenstraße 4 in Berlin-Mitte für das ganze Dritte Reich organisierten. Zwischen 1940 und 1941 töteten sie im Rahmen der Aktion T4 über 70.000 Menschen.

Dank von Galens Predigten rückte die sogenannte Euthanasie in den Fokus der breiten Öffentlichkeit, weshalb die NS-Regierung die Aktion T4 beenden musste. Sie begannen ein Jahr später wieder mit den Tötungen, allerdings nicht so offensichtlich wie zuvor. Von Galen selbst wurde wegen seines Widerstandes nur deshalb nicht verhaftet und hingerichtet, weil die Nazis ihn nicht zum Märtyrer machen wollten.

Foto: Justus Wilke

Umstrittenes Kriegerdenkmal an der Promenade

Der sechs Meter hohe Obelisk steht direkt an der Promenade, daher sollte ihn eigentlich jede:r schon mal gesehen haben. Aber das sogenannte Traindenkmal fällt im Gewusel der Fahrräder kaum auf. Es wurde 1925 vom Traditionsverein Königlich Westfälische Train-Abteilung Nr. 7 initiiert und erinnert an die Soldaten des Bataillons, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind. Drei Jahre später kamen zwei Bronzeplatten hinzu, die an weitere gefallene Train-Soldaten erinnern: zwei im damaligen Deutsch-Südwestafrika (heutiges Namibia) und einer in China. Das Denkmal und die Bronzeplatten sind seit der Nachkriegszeit sehr umstritten. Die Erinnerung an zwei deutsche Soldaten, die in Deutsch-Südwestafrika den „Heldentod“ für einen „Platz an der Sonne“ starben, scheint in Anbetracht der Todeszahlen auf der anderen Seite ziemlich zynisch. Der Völkermord der deutschen Soldaten kostete etwa 50.000 Herero und Nama das Leben. Trotzdem stand das Train-Denkmal jahrzehntelang unkommentiert an der Münsteraner Promenade. Erst 2010 wurde eine kleine Schrifttafel aufgestellt, die das Geschehen einordnet. Bis heute diskutiert die Stadt, wie mit dem Obelisk und den anderen Kriegerdenkmälern in der Stadt umgegangen werden soll. SSP

Foto: Fabian Kulle

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