Beklemmend, beeindruckend, brutal ehrlich

In „Die Welt im Rücken“ macht Thomas Melle reinen Tisch. Was er zuvor nur in Fiktionen einarbeitete, liegt nun offen zu Tage. Manie und Depression prägen sein Leben. So drastisch sie sein Leben zeichnen, so filigran zeichnet er es in seinem neuesten Buch nach. Damit schaffte er es auf die Shortlist des deutschen Buchpreises. 

Es muss schwer gewesen sein, dieses Buch zu schreiben. Ungleich schwerer jedoch, dieses Leben zu leben. Thomas Melle erzählt in seinem autobiographischen Roman seine Lebensgeschichte, die zugleich Krankheitsgeschichte ist. Seine Diagnose lautet: bipolare Störung. Er ist manisch-depressiv. Was diese kühlen Begrifflichkeiten verbergen, offenbart „Die Welt im Rücken“ auf unnachahmliche Weise.

Die Erzählung beginnt im Jahr 1999. Melles Freund und Mitbewohner Lukas sowie ein paar andere Nahestehende sehen sich gezwungen, einzugreifen. Intervention in der WG-Küche: „Etwas stimmt nicht.“ Zuvor ereignete sich die erste Nacht echter, paranoider Manie. Doch wir müssen noch weiter zurück. Wenige Monate zuvor hatte Melle noch in rasantem Tempo seinen Debutroman „Samstagnacht“ heruntergeschrieben. Lauernd und in freudiger Erwartung auf die Reaktionen der Verlage, fiel er kurz darauf in ein dumpfes Loch.

„Es beginnt mit einem Gefühlsüberschuss. Nein, es beginnt vorher: Mit einer Inkubationszeit, einem dumpfen Vegetieren in watteweichen, amorphen Tagen und Wochen, einem Dümpeln und Dämmern, vergleichbar mit der sprichwörtlichen ‚Ruhe vor dem Sturm’ ─ eine Zeit, an die ich mich meist nur unscharf erinnere, da sie nun einmal denkbar unscharf ist. Die Konturen des Denkens und Fühlens verschwimmen, die Reflexionen sind gelähmt. Auf eine undurchdringliche Weise bin ich nur teilexistent, eine geisterhafte, ihrer selbst lediglich halbbewusste Erscheinung, fast schon verschwunden. Dieser Lähmung geht eine rastlose Anstrengung voraus, gefolgt von großer Erschöpfung, ein Verschleudern der Kräfte und des Selbst.“

Mehr Alkohol, viel Schreiben, wenig Schlaf

Aus der Lähmung weckt ihn die Idee, einen Literaturblog unter den Namen diverser Popliteraten aufzumischen  ein Jungenstreich. Doch was folgt, ist der erste große manische Schub. Binnen weniger Tage und Wochen nimmt die Beschäftigung mit dem Blog Melle völlig ein. Zwar lassen er und Komplize Lukas den Schwindel auffliegen, doch Melle ist schon zu sehr in das Spiel von Beiträgen und Reaktionen der Community vertieft, als dass er sich noch anderen Dingen zuwenden könnte. Außerdem beginnen sich die Botschaften im Netz zu verändern. Alles scheint sich langsam um ihn zu drehen, in jeder Nachricht wittert er einen Subtext, der sich auf ihn bezieht. Seine Manie wird begleitet von einer Paranoia. Eines Tages wird er seinen Namen in jedem Songtext wiedererkennen und mit Madonna schlafen. Und es klingt glaubhaft.

Ein Buch mit Rhythmus

Was mit dieser Episode beginnt, endet mit dem Verfassen eben dieses Buches, das nun auf der Shortlist des deutschen Buchpreises steht  völlig zu Recht. Der Leser darf nicht nur, sondern muss mitunter auch Melles Leben durch drei Phasen begleiten. Was mit einer sich langsam anbahnenden, dafür jedoch umso abrupter sich bahnbrechenden Manie beginnt, flaut in einem seltsamen Zwischenzustand ab. Der Wahnsinn der letzten Monate steht dem Autor plötzlich klar vor Augen, Scham erfüllt ihn und die Verwüstungen wie Verletzungen, das materielle wie soziale Chaos, das er mit jeder Manie anrichtet, stürzen ihn schon wenig später in eine tiefe Depression. Drei dieser Zyklen aus Manie, zwischenzeitlicher Klarheit und anschließender Depressionen erschüttern Melles Leben sowie den Leser gleichermaßen. Sie strukturieren das Buch zu einem umwerfenden Einblick in eine gebeutelte menschliche Seele. Doch dabei geht es nicht um Mitleid. Vielmehr geht es darum, sich selbst Rechenschaft abzulegen, Dinge zu erklären.

„Hier geht es nicht um Abstraktion und Literatur, um Effekt und Drastik. Hier geht es um eine Form von Wahrhaftigkeit, von Konkretion, jedenfalls um den Versuch einer solchen. Es geht um mein Leben, um meine Krankheit in Reinform. Da darf der ursprüngliche Aufbrauch nicht fehlen. Nichts soll dabei verklausuliert, überhöht, verfremdet sein. Alles soll offen und sichtbar daliegen, soweit das eben möglich ist.“

Sprachmacht und stilistische Präzision

Dass dieser Anspruch auf Wahrhaftigkeit erfüllt werden kann, ist der Sprachmacht und Stilsicherheit des Autors zu verdanken. Die drei Zyklen, die jeweils auch die Kapitel des Romans bilden, sind in kurze Abschnitte unterteilt. Durch ihre grandiose Komposition gepaart mit dem präzisen Einsatz vom Satzbau und Wortwahl vermag es Melle, jede der geschilderten Gefühlslagen eindrucksvoll zu vermitteln. Reist er in höchster Manie für einen Kurztrip nach London, ergreift er den Leser mit seinem erschöpfenden Tempo, formt unglaublich rhythmische Satzgefüge, die einen mit ihm in unsteter Hetze und zielloser Umtriebigkeit umherirren lassen. Dann wieder klar, kühl, distanziert spricht der Autor aus der Gegenwart, reflektiert, ordnet die Situation ein, erklärt medizinische Details fast schon abgeklärt, nur um kurz darauf die Leere der Depression auf eine Weise aufs Papier zu bringen, die dem Leser fast die Luft abschnürt.

Es mag sich an wenigen Stellen, der Gedanken einstellen, dass es doch etwas anstrengt, sich nun auch noch die zweite oder dritte emotionale Berg- und Talfahrt von Melle zu Gemüte zu führen. Leichte Lektüre ist die „Die Welt im Rücken“ keineswegs. Doch dieses Buch ist der Mühe ohne Zweifel wert. Sie wird mit Blick auf die Extreme des menschlichen Denkens und Fühlens, verfasst in virtuoser Sprache, belohnt. Diesen Blick eröffnet Thomas Melle wie es vermutlich kein anderer gekonnt hätte: beklemmend, beeindruckend, brutal ehrlich.

„Wenn Sie manisch-depressiv sind, hat Ihr Leben keine Kontinuität mehr. Was sich vorher als mehr oder minder durchgängige Geschichte erzählte, zerfällt rückblickend zu unverbundenen Flächen und Fragmenten. Die Krankheit hat ihre Vergangenheit zerschossen, und in noch stärkerem Maße bedroht sie Ihre Zukunft. Mit jeder manischen Episode wird Ihr Leben, wie Sie es kannten, weiter verunmöglicht. Die Person, die Sie zu sein und kennen glaubten, besitzt kein festes Fundament mehr. Sie können sich Ihrer selbst nicht mehr sicher sein.“

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