Der verlorene Sommer?

Vor uns lagen Monate von Maskenpflicht und Abstandhalten, abgesagten Festivals und stornierten Urlauben. Als wir an Silvester auf das kommende Jahr anstießen, war unsere Vorstellung von diesem Jahr sicher gravierend anders. Auf der ganzen Welt, aber auch hier in Münster, wird 2020 oft als das „Katastrophenjahr“ bezeichnet, was es in vieler Hinsicht sicher auch ist. Doch heißt das direkt, dass wir Anfang Juni schon den gesamten Sommer für verloren erklären können?

Als ich dann ein paar Tage nach unserer Redaktionssitzung mein Erasmus-Semester absagen musste, begann auch ich daran zu glauben. Der Sommer war verloren, denn alles, was danach, davor und dazwischen war, war nicht, was ich mir vorgestellt hatte. Ich habe im Sommersemester nicht einen Fuß in die Uni gesetzt, war nicht ein einziges Mal in der Bibliothek. All die Dinge, die sonst kamen, bevor der Sommer kommt, waren also bereits verloren. Wie sollte denn aus dem Sommer noch irgendetwas werden? Alle Urlaube des Jahres waren bereits abgesagt, einer stand noch auf der Kippe, ich hatte zwar einen Stapel Bücher, aber auch einen Haufen Eintönigkeit, der auf mich zuzukommen schien.

Wir sahen uns eingeschränkt. So lange man in Geschäften Masken tragen muss, ist doch alles nicht normal, wie sollen wir denn einen schönen Sommer haben? Ist der Sommer nicht auch irgendwie unser Freitag? Warten wir nicht immer ein ganzes Jahr auf den Sommer, um dann über die Hitze zu klagen und darüber, dass der Kanal so weit weg von allem ist?

Und dann fliegen wir in den Urlaub, nach Griechenland oder Italien, beschweren uns über die deutschen Tourist:innen und die sanitären Anlagen, um dann zu braun gebrannt wieder nach Hause zu fliegen? Wenn es das ist, was wir verlieren, dann könnte es vielleicht etwas sein, dass wir so oder so mal gründlicher überdenken und vielleicht verlieren sollten?

Das Beste aus etwas zu machen, ist keine sehr deutsche Einstellung und liegt uns vielleicht nicht im Blut. Doch ich fuhr an den Kanal. Jeden Tag in dieser einen Woche im Juni, als Münster jeden Tag an die 30-Grad-Marke kam. Ich konnte alles so schieben, wie ich es wollte, hatte keine Termine, bei denen ich sein musste, nur Vorlesungen anzuhören und Hausarbeiten zu schreiben. Aufgaben, die sich auch problemlos während des Regengusses ab acht oder morgens um sieben erledigen ließen. Ich war nicht eingeschränkt und konnte das erste Mal so richtig erkennen, was der Vorteil des Homeoffice eigentlich sein konnte.

Etwas zu verlieren bedeutet auch immer, Platz für Neues zu schaffen. Raum für Dinge zu finden, die sonst keinen Raum einnehmen konnten. Wie endlich Skateboard fahren lernen, obwohl man schon vier Jahre davon geredet hat. Menschen zuhören. In Münster leben. Mal richtig hier leben und sich etwas frei machen von dem Drang, jede Semesterferien diese eine tolle Reise zu machen, die Geschichten mit sich bringt, die sich dann im verregneten November wahnsinnig gut erzählen lassen. Sich mal wieder zuhören und auch nur nebeneinander im Park liegen und lesen, denn man hat sich die letzten vier Tage ja schon gesehen. Bewusst eine Fahrradtour durchs Münsterland machen und den schönsten See überhaupt entdecken, denn von diesen Orten soll es wohl viele geben.

Hat der Sommer, diese Eintönigkeit, der nun Raum gemacht wurde, nicht vielleicht auch die Chance, sich mal wieder ein bisschen wie sechs Wochen Sommerferien anfühlen zu lassen? Wenn man früher ausgeschlafen hat, aufgestanden ist und noch überhaupt nicht wusste was passiert heute? Irgendwann ist man dann mit dem Rad losgefahren, an den See oder ans Meer, auch da ist nicht viel passiert, aber glücklich war man trotzdem. Eintönigkeit verleitet auch zur Kreativität und schafft Dinge, die nicht entstanden wären, wären wir mal wieder durch einen mit Freizeitstress überladenen Sommer gehetzt.

Vielleicht ist der Sommer also doch gar nicht so verloren?

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