„Klar hat man Angst, vergessen zu werden.“

 Deniz Yücel stellt sein Buch „Agentterrorist“ in Münster vor

Deniz Yücel spricht in Münster über die Bedeutung von kritischer Berichterstattung, über die Macht der Öffentlichkeit und über Haribos Saure Pommes. Alles in allem erinnert uns der Autor daran, wie wichtig es ist, für Freiheiten zu kämpfen. 

Handsigniertes Buch von Deniz Yücel

Das Interesse an den Worten Deniz Yücels ist groß in Münster. Bereits eine Dreiviertelstunde vor Einlass versammeln sich zahlreiche Münsteraner:innen vor dem Eingang der Pension Schmidt, um die besten Plätze für die Lesung des Buchautors und ehemaligen Welt-Korrespondenten zu ergattern. Nachdem die Tickets für eine erste Lesung in Münster bereits nach kürzester Zeit ausverkauft waren, konnte noch eine zweite Vorstellung für den Abend organisiert werden, die sich ebenfalls bis auf den letzten Platz füllte. Allein auf Facebook gab es mehr als 2000 Interessierte für die Veranstaltung.

Yücel liest am Dienstagabend aus seinem aktuellen Buch „Agentterrorist. Eine Geschichte über Freiheit und Freundschaft, Demokratie und Nichtsodemokratie“ und nutzt die Gelegenheit, um seine Erfahrungen aus der Haft in der Türkei zu schildern. Der Buchtitel ist vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan inspiriert, der Deniz Yücel öffentlich als „Agentterrorist“ bezeichnete. Im Gespräch mit dem Münsteraner Journalisten und Moderator des Abends Ralf Heimann berichtet Deniz Yücel von den Ereignissen, die zu seiner Inhaftierung führten. Er sei sich bereits bei Antritt der Korrespondentenstelle der besonderen Gefährdung bewusst gewesen, der er als deutscher Journalist mit türkischem Namen ausgesetzt war, meint Yücel. Dennoch lehnte er das „spannende Jobangebot“ in Istanbul nicht ab. 
Den ersten Polizeikontakt erlebte Yücel bereits 2016 bei einer Pressekonferenz an der syrischen Grenze, zu einer Inhaftierung kam es damals jedoch nicht. Noch im selben Jahr ereignete sich der Putschversuch gegen die Regierung. 250 Menschen kamen bei friedlichen Protesten auf der Straße ums Leben. Der Putschversuch scheiterte, das Militär übernahm nicht die Macht im Land. Und doch, erklärt Yücel, wurde das Land fortan von einer Regierung geführt, die die gleichen Instrumente wie eine Militärregierung anwendete: Sie regierte im Ausnahmezustand und erließ Notstandsdekrete. Mehr und mehr türkische Journalist:innen wurden des Terrors verdächtigt und verhaftet. Der ehemalige Türkeikorrespondent beschreibt, wie die Berichterstattung ausländischer Journalist:innen mit einem Mal an Bedeutung für die türkische Öffentlichkeit gewann, da die Vielfalt der einheimischen Medienlandschaft und die kritische Berichterstattung zunehmend zurückgingen. Auch für Yücel wurde die Situation kritisch – er wurde zur Fahndung ausgeschrieben. Für einige Wochen konnte er in der Sommerresidenz der deutschen Botschaft untertauchen. Zu dieser Zeit fanden Verhandlungen für das EU-Türkei-Abkommen statt, das die Einwanderung in die Europäische Union (EU) verringern soll. Als der deutsch-türkische Journalist letztendlich entschied, sich der Polizei zu stellen, beschreibt er dies als Wiederherstellung einer gewissen Autonomie.

Trotz der weichen Sessel und des angenehm warmen Lichtes im Veranstaltungsraum gelingt es Yücel während der Lesung, die Zuhörenden in die Gefängniszelle auf dem Polizeirevier zu entführen, die Atmosphäre und die Zustände vor dem inneren Auge des Publikums zu rekonstruieren. Der Autor bleibt dabei stets humorvoll. Mit Witz und Ironie beschreibt er Gespräche mit kurdischen Mitgefangenen oder Begegnungen mit befreundeten Journalist:innen auf dem Flur des Gefängnisses. Das Verbot von Tageszeitungen, die Sehnsucht nach der Haribo-Sorte „Saure Pommes“ und der permanente Wille zu schreiben prägen den Gefängnisalltag Deniz Yücels. Immerhin wurde er täglich ärztlich untersucht und hatte Zugang zu Büchern. Später in der strengen Einzelhaft sei die Situation bedrückender geworden, erklärt der deutsch-türkische Journalist. Insgesamt musste er 290 Tage isoliert in einer Zelle verbringen.

Nach einem Jahr wurde Deniz Yücel am 16. Februar 2018 entlassen und kehrte noch am selben Tag zurück nach Deutschland. Ob Yücel tatsächlich immer einen klaren Kopf während seiner Zeit im größten türkischen Gefängnis, das den Namen Silivri trägt, behielt, wie er es andeutet, bleibt fragwürdig. Angst und Mutlosigkeit sind alltägliche Begleiter eines Menschen, der seiner Freiheit beraubt und Folter ausgesetzt wurde. Momente der Schwäche wären auf jeden Fall nachvollziehbar. Deutlich wird, dass Yücel während seiner Haft stets um Kontrolle und Selbstbestimmung bemüht war. Auf wiederholte Rückfragen gibt er zu: „Klar hat man manchmal Angst, vergessen zu werden.“.

Der Fall Yücel lässt einen tiefen Einblick in den Zustand der Rechtsstaatlichkeit des Landes zu. Die Türkei ist laut Reporter ohne Grenzen eins der Länder mit den meisten inhaftierten Journalist:innen und auf Platz 157 von 180 möglichen Plätzen beim 2019 World Press Freedom Index. Insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch, ging die Regierung massiv gegen kritische Stimmen aus den Medien vor, verbot Zeitungen, Fernseh- und Radiosender sowie Verlage. Insbesondere die Verfassungsreform von 2017 verwandelte das parlamentarische System der Türkei in ein Präsidialsystem, das die Befugnisse der Exekutive in den Händen Erdoğans bündelt und nur noch über eine eingeschränkte Gewaltenteilung verfügt. Der Europarat beschloss bereits im selben Jahr, ein umfassendes Monitoring zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte in der Türkei einzusetzen. In dieser kritischen Lage für die Meinungs- und Pressefreiheit zeigt uns der Fall Yücel, welchen Einfluss die Öffentlichkeit haben kann. Das Hashtag #freeyücel, zahlreiche Briefe und eine medienwirksame Kampagne mit prominenten Gesichtern ermöglichten maximale Aufmerksamkeit für die unrechtmäßige Inhaftierung und übten enormen Druck auf die AKP-Regierung aus. Yücel bedankt sich im Rahmen der Lesung auch bei der Stadt Münster, die mit einem Fahrradkorso für die Kampagne besonders hervorgestochen sei. Die Kraft, die ihm der öffentliche Rückhalt in der Isolationshaft gegeben habe, sei unermesslich gewesen, versichert der ehemalige Türkei-Korrespondent.

Nicht nur in der Türkei, sondern auch in der EU ist die Meinungsfreiheit keine Selbstverständlichkeit. In vielen Staaten ist kritische Berichterstattung unmöglich, Pressearbeit wird stark beschränkt, Journalist:innen müssen um ihre Freiheit oder sogar um ihr Leben bangen. Erst vor Kurzem wurden der Journalist Ján Kuciak in der Slowakei und die investigative Journalistin Daphne Caruana Galizia in Malta ermordet. Wenn eines in der Lesung von Deniz Yücel deutlich geworden ist, dann dass Freiheiten und Rechte nicht selbstverständlich sind. Wir müssen sie immer wieder verteidigen und stärken.

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