Hinter den Bildschirmen

„Deutschland fährt runter“, titelte der Spiegel Mitte März. An den innereuropäischen Grenzen kehrten die Autos um, Pausenbrote verschimmelten in der Schultasche und Berufsmusiker:innen gaben nur noch Kleinkonzerte für ihre Zimmerpflanzen. Kurz: Die Bundesrepublik befand sich in den ersten Aprilwochen „im Standby-Modus“, so der Münchner Merkur. Wie die Fließbänder der Automobilindustrie wurde das gesellschaftliche Leben in der Corona-Krise angehalten. Diesen Eindruck konnte man zumindest beim Blick in die großen Nachrichtenportale bekommen.

Viele Redaktionen suchten in technischen Bildern nach Vergleichen, um adäquat das zu beschreiben, was sich erst in China und dann global verändert hatte. Unterdessen wurden Laptops hochgefahren, Zoom installiert und Millionen neuer Netflix-Abos abgeschlossen. Die Straßen waren leer, der Datenverkehr explodierte. Am 10. März rauschten 9,1 Terabit pro Sekunde durch den weltweit größten Internetknotenpunkt, den DE-CIX in Frankfurt am Main. Mehr als je zuvor. Und seitdem bleibt der Datenverkehr etwa auf diesem Niveau. Gesellschaften fahren nicht herunter, nicht 2020 und nicht im technischen Sinne. 

Seit die Welt draußen potenziell infektiös geworden ist, sind die eigenen Räume zum Knotenpunkt des gemeinsam-einsamen Lebens geworden. Jedes Zimmer ein kleines Funkhaus, von dem aus Berufliches, Intimes und Belangloses gesendet wird – immer in der Hoffnung, von den richtigen Empfänger:innen wahrgenommen zu werden. Auf den heimischen Bildschirmen treffen zeitgleich Meinungs- und Informationsschnipsel ein, die zusammengenommen das Grundrauschen dieser Zeit bilden. Die Corona-Krise hat die Digitalisierung nicht erfunden, aber sie hat den Trend verstärkt, viele Bereiche des Lebens ins Digitale zu verlagern.

Musik läuft über Spotify, Seminare über Zoom, formelle Korrespondenz per Mail, Meinungen über Twitter und albernes Geplauder über WhatsApp. Für all diese Aktivitäten und Beziehungsformen nutzen wir verschiedene Programme, Apps und digitale Dienstleistungen. In jedem dieser virtuellen Räume wird das kommuniziert, was ihrem jeweiligen Zweck entspricht. Der Mensch hinter den Bildschirmen verwaltet und kanalisiert seine Interessen. Das zeigt sich bisweilen an paradoxen Phänomenen: Studierende, die sorgfältig kuratiert ihr Privatleben auf Instagram teilen und solange wie möglich ihre Kamera auf Zoom ausschalten. 

Sicherlich ist es eine Bereicherung, digital den Kontakt zu Freund:innen und Familie aufrecht zu erhalten, schnell einen Artikel zu lesen oder sich politisch zu organisieren. Ende Mai verkündete das ZDF: „Deutschland fährt wieder hoch.“ Langsam findet das Leben wieder draußen statt. Und vielleicht ist das ein guter Zeitpunkt, darüber nachzudenken, was im Digitalen verbleiben soll und wo das menschliche Aufeinandertreffen im analogen Raum unersetzbar ist. Oder anders gefragt: Wie wollen wir mit der eigenartigen Tatsache, dass ich Eine:r nur in Gesellschaft bin, mich nur dann nicht in verschiedene, kleinteilige Funktionen zersplittere, umgehen?

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